Blutmale
Miene ließ keiner lei Skrupel hinsichtlich der bevorstehenden Prozedur erkennen. Für sie war es einfach nur ein Job, den sie gewissenhaft und fachmännisch erledigen würde. Obwohl sie beide in ihrem Berufsalltag ständig mit dem Tod zu tun hatten, war Maura wesentlich vertrauter mit ihm als Jane, und es machte ihr weit weniger aus, ihm ins Auge zu blicken.
»Wir wollten gerade anfangen«, sagte Maura.
»Ich bin im Stau stecken geblieben. Die Straßen sind in einem katastrophalen Zustand heute Morgen.« Jane band sich die Maske um und trat an den Tisch. Aber sie vermied es, die Leiche anzuschauen, und konzentrierte sich stattdessen auf den Leuchtkasten mit den Röntgenbildern.
Yoshima betätigte den Schalter, und hinter den zwei Reihen von Filmen flackerte das Licht auf. Die Aufnahmen zeigten den Kopf des Opfers. Doch sie waren anders als alle Schädelbilder, die Jane bisher gesehen hatte. Dort, wo die Halswirbelsäule hätte sein sollen, sah sie nur einige wenige Wirbel, und dann … nichts. Nur den ausgefransten Rand des weichen Gewebes, dort, wo der Hals durchtrennt worden war. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie Yoshima den Kopf für die Röntgenaufnahmen zurechtgelegt hatte. War er wie ein Fußball hin und her gerollt, als Mauras Assistent ihn auf die Film kassette gelegt und den Kollimator ausgerichtet hatte? Sie wandte sich vom Leuchtkasten ab.
Und unwillkürlich ging ihr Blick zum Sektionstisch. Zu den sterblichen Überresten des Opfers, die entsprechend ihrer anatomischen Lage auf dem Tisch angeordnet waren. Der Torso lag auf dem Rücken, die abgetrennten Teile mehr oder weniger dort, wo sie hingehörten. Ein Puzzle aus Fleisch und Knochen, dessen Teile darauf warteten, wieder zusammen gesetzt zu werden. Sie hätte am liebsten nicht hingesehen, aber da lag er: der Kopf, der auf das linke Ohr gerollt war, als hätte die Tote ihn gedreht, um sie anzuschauen.
»Ich muss die Wundränder zusammenführen«, sagte Maura. »Kannst du mir helfen, den Kopf zu halten?« Eine Pause. »Jane?«
Erschrocken sah Jane Maura an. »Was?«
»Yoshima wird Fotos machen, und ich muss mir die Wunde unter der Lupe ansehen.« Maura fasste den Schädel mit ihren behandschuhten Händen und drehte ihn hin und her, bis die Wundränder zusammenpassten. »So, jetzt halte ihn in die ser Position. Zieh dir Handschuhe an und komm hierher zu mir.«
Jane sah Frost an. Lieber du als ich , sagten seine Augen. Sie ging zum Kopfende des Tisches, wo sie stehen blieb, um sich Handschuhe überzustreifen. Dann nahm sie den Schädel in beide Hände. Ihr Blick wurde von den Augen des Opfers an gezogen. Die Hornhäute waren trüb wie Wachs, und nach anderthalb Tagen im Kühlraum fühlte die Haut sich eiskalt an. Als Jane das Gesicht der Toten zwischen den Fingern hielt, musste sie an die Fleischtheke im Supermarkt bei ihr um die Ecke denken, an die tiefgefrorenen Hähnchen in Plastikfolie. Im Grunde sind wir doch alle nur rohes Fleisch .
Maura beugte sich über die Wunde und betrachtete sie durch das Vergrößerungsglas. »Es scheint sich um einen einzigen glatten Schnitt quer durch die Halsvorderseite zu handeln. Sehr scharfe Klinge. Die einzigen Einkerbungen, die ich erkennen kann, sind ziemlich weit hinten unter den Ohren. Minimal ausgeprägtes Brotmessermuster.«
»Ein Brotmesser ist aber nicht besonders scharf«, meinte Frost. Seine Stimme klang, als käme sie aus weiter Ferne. Jane blickte auf und sah, dass er vom Tisch zurückgetreten war und nun fast am Waschbecken stand. Außerdem hatte er die Hände über seine Maske gelegt.
»Mit einem Brotmessermuster meine ich nicht die Art der Klinge«, erklärte Maura. »So bezeichnet man die Schneidetechnik. Wiederholte Schnitte, die immer tiefer gehen und dabei in derselben Ebene bleiben - wie wenn man eine Scheibe von einem Brotlaib abschneidet. Was wir hier sehen, ist ein sehr tiefer erster Schnitt, der den Schildknorpel glatt durchtrennt hat und bis auf die Wirbelsäule hinabreicht. Dann eine zügige Exartikulation, zwischen dem zweiten und dritten Hals wirbel. Es hat vielleicht nicht ganz eine Minute gedauert, bis der Kopf vom Rumpf getrennt war.«
Yoshima trat mit der Digitalkamera an den Tisch und fotografierte die zusammengelegten Wundränder, von vorne und von der Seite. Das Grauen aus jedem erdenklichen Blickwinkel.
»Okay, Jane«, sagte Maura. »Jetzt wollen wir mal einen Blick auf die Schnittebene werfen.« Maura ergriff den Schädel und drehte ihn um, sodass der Hals oben lag.
Weitere Kostenlose Bücher