Blutmond - Wilsberg trifft Pia Petry - Kriminalroman
Die Vögel machten Lärm, die Eichhörnchen liefen im Zickzack und selbst die Autos waren bunter als sonst. Auf dem Weg zur Bäckerei grüßte ich den Gemüsemann, der den Bürgersteig vor seinem Laden fegte, und den italienischen Eisdielenbesitzer, der die Sonnenschirme öffnete. Ich fühlte mich frisch und ausgeruht, obwohl ich nur vier Stunden geschlafen hatte.
In der Bäckerei kaufte ich von jeder Brötchensorte eins, so konnte ich nichts verkehrt machen. Außerdem Käse, Aufschnitt und Marmelade, weil ich mir nicht sicher war, ob die Schätze in meinem Kühlschrank noch vorzeigbar waren.
Eine Viertelstunde später betrachtete ich den gedeckten Frühstückstisch. Warum hatte ich nicht längst besseres Geschirr gekauft? Und ein paar Orangen für frisch gepressten Orangensaft wären auch nicht schlecht gewesen. Egal, dafür war es jetzt zu spät. Blieb nur noch die Grundsatzfrage jedes Frühstücks zu klären.
Ich ging durch den Flur zum Schlafzimmer. »Pia, trinkst du Kaffee oder Tee?« Keine Antwort.
So fest konnte sie doch gar nicht schlafen. Ich öffnete die Schlafzimmertür. Das Bett war leer. Ich horchte in Richtung Badezimmer. Unter der Dusche stand sie auch nicht.
Ich klopfte an die Badezimmertür. »Pia?«
Vorsichtig öffnete ich die Tür. Auf der Ablage unter dem Spiegel stand ein geöffneter Lippenstift und im Waschbecken klebten ein paar lange, braune Haare.
Das war alles, was sie mir hinterlassen hatte.
21
Pia Petry frühstückt mit einem Vampir
Ich habe ihm nicht widerstehen können. Nicht seiner Stimme, nicht seinen Argumenten, nicht seinem Drängen. Er wollte mit mir frühstücken und jetzt frühstückt er mit mir. So sind sie, die Herrn Sadisten. Gewohnt, sich durchzusetzen.
Und irgendwie finde ich dieses Kontrastprogramm zu Wilsberg ausgesprochen angenehm. Bei Dracu mache ich mir keine Gedanken über spießige Beziehungsmodelle. Er ist kein Typ für die Zukunft. Kein Typ für mittel- oder langfristige Pläne. Allenfalls ist er gut für ein Abenteuer. Nur, die Finger verbrennen sollte ich mir dabei nicht. Und die Gefahr besteht. So wie er heute aussieht. Er lässt sich neben mich auf den Stuhl fallen und amüsiert sich über meinen überraschten Gesichtsausdruck.
»Heute mal nicht in Leder?«, frage ich erstaunt.
Er trägt eine verwaschene Jeans und einen hellblauen kuschelweichen Wollpulli, der teuer und nach Kaschmir aussieht.
»Nein«, sagt er lachend. »Zum Frühstück wollte ich dir mal was Besonderes bieten. Gefällt's dir?«
»Ja!«, antworte ich und registriere erfreut, dass sich so gut wie jede Frau im Café nach Dracu umsieht. Ich komme mir vor wie Kim Cattrall als Samantha in Sex and the City, die die Nacht mit dem einen Mann verbringt und das Frühstück mit dem nächsten einnimmt. Und da soll mal einer behaupten, mit Anfang vierzig erlebe man nichts mehr.
Dracu winkt der Kellnerin und bestellt einen Milchkaffee.
»Was bist du eigentlich im richtigen Leben?«, frage ich.
Er grinst. »Bestattungsunternehmer? Serienkiller? Sexualverbrecher?«
Ich verdrehe die Augen. »Jetzt mal ehrlich. Hast du irgendeine Ausbildung?«
»Tierpräparator?«
»Dracu!«, rufe ich aus und werde langsam ärgerlich.
»Na gut.« Er beugt sich über den Tisch und greift nach meiner Hand. »Ich habe Literaturwissenschaften studiert.«
»Ha, ha!«, sage ich und ziehe meine Hand zurück.
»Wirklich!«
»Ehrlich?«
»Aber ja«, sagt er und greift wieder nach mir. Diesmal lasse ich es zu.
»Was ist dein Lieblingsbuch?«, frage ich misstrauisch.
» Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez.«
»Wie viele Bücher hast du zu Hause?«
»So circa viertausend, schätze ich.«
»Was für Jobs hast du nach deinem Studium gemacht?«
»Ich war eine Zeit lang in Südamerika und habe in einem Literaturverlag gearbeitet. Hat mir auf Dauer aber keinen Spaß gemacht.«
Komisch, denke ich, alle Welt war schon mal in Südamerika. Nur ich nicht.
»Was liest du im Moment?«, nehme ich mein Verhör wieder auf.
»Die Geschichte der O?«
»Klar, was sonst.«
»Nein, war nur ein Witz. Ich lese Justine oder Die Leiden der Tugend. «
»Von Marquis de Sade.« Ich verdrehe die Augen. »Wer hätte das gedacht.«
Er lacht und sein Zungenpiercing, eine kleine silberne Kugel, blitzt kurz zwischen seinen Zähnen auf. Als er meinen Blick bemerkt, streckt er die Zunge heraus und dreht die Kugel ab. Darunter kommt eine winzige, messerscharfe Sichel zum Vorschein. Erschrocken zucke ich
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