Blutrausch
kann ich bereits wieder so gut sehen, dass ich die Anschlagtafel über der gegenüberliegenden Sitzreihe lesen kann. Es ist ein Gedicht von Dylan Thomas:
Die nackten Toten die sollen eins
Mit dem Mann im Wind und im Westmond sein;
Blankbeinig und bar des blanken Gebeins
Ruht ihr Arm und ihr Fuß auf Sternenlicht.
Wenn sie irr werden solln sie die Wahrheit sehn,
Wenn sie sinken ins Meer solln sie auferstehn.
Wenn die Liebenden fallen – die Liebe fällt nicht;
Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.
Und ich fahre direkt bis zur 14th. Frei und unbehelligt. Und ich weiß einfach, dass das kein gutes Zeichen ist.
An der 14th steige ich aus. Ich bin fertig mit den Nerven. Ich wechsle in die Linie L, fahre bis zur First, verlasse die Station und stehe wieder im Tageslicht.
Die Sonne ist genauso schlimm wie in Uptown, aber doch irgendwie anders. Eine vertrautere, fast heimelige Sonne. Schnell gehe ich zu dem Laden auf der 10th, wo ich mir ein Sixpack und eine Schachtel Luckies besorge. Der Verkäufer gibt mir Streichhölzer, und ich stecke mir gleich eine an. Dann laufe ich die Straße zu meiner Wohnung hinunter. Ich betrete die Eingangshalle und sehe die Post durch. Nur die üblichen Werbebriefe. Dann öffne ich die drei Türriegel, betrete mein Apartment, schalte die Alarmanlage aus, schließe die Tür hinter mir, schiebe die Riegel wieder vor, mache die Anlage wieder scharf und lehne meine Stirn gegen die Wand. So bleibe ich eine Weile stehen, bis mir klar wird, dass ich meinen Hintern dringend wieder in Bewegung setzen muss.
Ich lasse die Couch links liegen, obwohl ich jetzt nichts lieber machen würde, als mich darauffallen zu lassen, den Sixpack auszutrinken und eine Lucky nach der anderen zu rauchen. Stattdessen gehe ich in den Keller und hole meine andere Pistole.
Mit der 9mm, die ich Riesenbrille abgenommen habe, scheint alles in Ordnung zu sein. Trotzdem greife ich lieber auf eine vertraute Waffe zurück. Und dieser Waffe vertraue ich, soweit man einer Knarre überhaupt vertrauen kann. Denn die Dinger haben es so an sich, dass sie mir früher oder später abgenommen und auf mich selbst gerichtet werden. Und deswegen hält sich mein Vertrauen auch in Grenzen. Trotzdem, es ist meine Knarre, und da ich damit schon mehrere Leute ins Jenseits befördert habe, weiß ich, wie sie funktioniert. Ich lasse Riesenbrilles Kanone im Safe und schiebe mir meine in die Tasche. Dann öffne ich den Minikühlschrank.
Der Beutel mit Anathema ist immer noch in meiner Jacke. Ich fische ihn heraus und rieche daran. Ich habe keine Ahnung, ob es noch wirksam ist, stinken tut es jedenfalls so. Ich lege den Beutel in den Kühlschrank. Es soll nicht unbedingt jeder sofort das Zeug riechen, wenn ich irgendwo auftauche. Dann werfe ich einen Blick auf den Blutbeutel, der noch übrig ist. Die Blasen auf meinen Handrücken pulsieren schmerzhaft. Mein ganzer Körper fühlt sich ausgetrocknet und heiß an. Sonnenbrand überzieht meine Haut. Wenn es weg ist, ist es weg. Scheiß drauf.
Ich öffne den Beutel und sauge ihn leer. Sobald das Blut erst mal in meinem Körper ist, frage ich mich, was ich eigentlich für ein Problem habe. Natürlich muss man es sofort trinken, keine Frage. Man sollte es trinken, wo und wann immer man es kriegen kann. So gut, wie man sich dabei fühlt. Ich schneide den Beutel auf und lecke ihn aus. Gut. Die Blasen sind zwar nicht verschwunden, tun aber überhaupt nicht mehr weh. Ich fühle mich jetzt viel besser. Scheiße, ich will gar nicht dran denken, wie ich mich in ein paar Tagen fühlen werde, sollte es mir nicht gelingen, frisches Blut aufzutreiben. Ich werfe den leeren Beutel in die Mülltüte und schließe den Kühlschrank.
Auf dem Klo wasche ich mir das Gesicht und spüle den letzten Rest Schorf aus meinem Mund. Ein Spritzer von Vandewaters Blut klebt an meiner Schulter. Ich wische ihn mit dem Handtuch ab. Dann fällt mein Blick auf das Loch, das sie in den Kragen meiner Jacke gerissen hat. Ich stecke meinen Finger hinein. Das werde ich wohl von einem Profischneider reparieren lassen müssen. Ich ziehe die Jacke wieder an, schmeiße Riesenbrilles Sonnenschutzausrüstung in den Abfall und krame meine eigenen Sachen heraus. Ich habe keine Lust mehr, den stinkenden Schweiß anderer Leute in der Nase zu haben.
Nachdem ich ein Bier gekippt habe, stelle ich den Rest in den normalen Kühlschrank, in dem sich wirklich Essen befindet, oder zumindest irgendwelches Zeug, das vor sich hin
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