Blutschande
sie an einem Ort gesehen worden waren, an dem sie nicht gesehen werden wollten. Oder nicht wollten, dass andere erfuhren, dass sie dort gesehen worden waren.
»Außerdem zeigen die Untersuchungen an Cecilies Fahrrad, dass dieses bereits am Sonntagabend ins Wasser geworfen worden ist, und nicht erst Montag früh. Sie aber wollten uns glauben machen, Cecilie sei mit diesem Fahrrad zur Schule gefahren«, ergänzte Max jetzt.
Anne Grethe Junge-Larsen Blick flackerte. Ihre Fassade war jetzt vollends zusammengebrochen. Was für eine Achterbahn der Gefühle. Liv hatte fast Mitgefühl mit der Frau, als diese den Kopf senkte und zu weinen begann.
»Fangen wir einfach noch einmal von vorne an«, sagte Liv und achtete darauf, dass ihre Stimme weiterhin freundlich klang. Sie wusste inzwischen, dass es keinen Grund gab, die Harte zu spielen. Sie würde die Mutter schon zum Sprechen bringen. »Sie und Ihr Mann hatten Schwierigkeiten, Kinder zu bekommen, wie ich gehört habe. Das muss hart für Sie gewesen sein.«
Die Frau nickte schniefend, hob schließlich den Kopf und atmete tief ein.
»Ja, aber dann kam Cecilie.«
»Wie lange haben Sie auf ein Kind gewartet?«
»Fast zehn Jahre.«
»Das muss für Ihre Beziehung eine schwere Prüfung gewesen sein.«
»Es war eine harte Zeit, ja. Aber mein Mann stand mir die ganze Zeit bei.«
»Natürlich«, sagte Liv und dachte sich, dass sie diese Antwort auch schon im Voraus hätte notieren können. Selbstverständlich versuchte die Frau, sich an das zu klammern, was ihr noch geblieben war.
»Es muss eine ungeheure Erleichterung gewesen sein, als Sie endlich schwanger waren.«
Anne Grethe Junge-Larsens Gesicht leuchtete trotz der Tränen etwas auf.
»Das war es, ja. Wir haben uns unheimlich gefreut.«
»Und Sie waren Hebamme?«
»Ich bin ausgebildete Hebamme, ja. Aber seit meiner Schwangerschaft habe ich nicht mehr gearbeitet.«
»Warum nicht?«
»Es war immer der Wunsch meines Mannes, dass ich mich um unser Heim kümmere, und als ich endlich schwanger war, fanden wir beide, dass es aus Rücksicht auf das Kind so auch am besten wäre. Als Hebamme hat man doch sehr unregelmäßige Arbeitszeiten, außerdem ist die Arbeit sehr anstrengend, schließlich ist man die ganze Zeit auf den Beinen.«
»Die Nachtschichten müssen hart gewesen sein, denke ich mir, insbesondere wenn man schwanger und müde ist«, sagte Liv. Anne Grete Junge-Larsen nickte, und Liv fuhr fort: »Was war das für ein Gefühl, jeden Tag anderen Kindern auf die Welt zu helfen, wenn man sich selbst so sehnsüchtig ein eigenes Kind wünscht?«
»Die Arbeit hat mir immer viel gegeben. Ich liebe kleine Kinder über alles.«
»Vielleicht nicht mehr so sehr, wenn sie erst etwas größer sind?«
»Wie meinen Sie das?«
»Werden sie dann zu anspruchsvoll? Mädchen können einen manchmal ziemlich fordern, nicht wahr? Und sich wahnsinnig anstellen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich habe selbst zwei im Alter von zwei und vier Jahren. Die werden manchmal richtiggehend hysterisch, wenn sie ihren Willen nicht kriegen. War Cecilie auch schon mal so?«
»Nie, Cecilie ist ein wohlerzogenes Kind.«
»Sie wollen mir also wirklich weismachen, dass Sie sich nie über Cecilie aufgeregt haben?«
»Natürlich habe ich mich manchmal aufgeregt, aber dann haben wir miteinander gesprochen. In unserer Familie gehen wir anständig miteinander um.«
Liv lächelte innerlich. Anne Grethe Junge-Larsen wahrte genau die verlogene Fassade, vor der sie als Jugendliche davongelaufen war.
»Dann haben Sie sie also nie angeschrien?«
Jetzt komm schon, los, hör endlich auf, uns anzulügen.
»Es ist doch ganz normal, auch mal wütend auf seine Kinder zu sein und laut zu werden«, übernahm Max.
»Nicht in unserer Familie. Wir reden anständig miteinander. Es tut mir leid, aber bei uns ist das so. Es ist doch wohl nicht strafbar, dass wir gut miteinander auskommen.«
Liv setzte den Hut ab und legte ihn auf den Tisch. Dann fuhr sie sich müde mit der Hand durch die Haare, so dass sie in alle Richtungen abstanden. Anne Grethe Junge-Larsen starrte sie an, als hätte sie am liebsten einen Kamm geholt und sie frisiert.
»Wie wäre es, wenn Sie uns endlich erzählen würden, was Sie wirklich am Sonntag gemacht haben?«, fragte Liv.
»Wir waren auf dem Boot und haben dort zu Mittag gegessen. Wir sind bis nachmittags dort geblieben. Etwa bis halb sechs.«
»Ein Fischer hat uns erzählt, dass Cecilie allein im Hafen Fahrrad gefahren ist.
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