Blutschande
Das ist eine reine Formalität.«
»Ich war unten in der Badmintonhalle. Ich spiele da mit drei anderen Frauen einmal in der Woche. So halten wir uns fit«, sagte sie mit einem etwas gezwungenen Lächeln. »Ja, ich habe immer wieder versucht, Mette zu bewegen, doch einmal mitzukommen, aber … na ja, Sie wissen schon.«
Liv erwiderte ihr Lächeln und notierte das Alibi auf ihrem Block.
»Haben Sie irgendeine Idee, wer Ihrer Tochter den Tod gewünscht haben könnte?«
Die kleine Frau schüttelte den Kopf und starrte auf den Sofatisch. Neben einer alten Kaffeetasse lag ein Fotoalbum.
»Ich habe keine Ahnung, wer einen Grund haben könnte, ihr etwas anzutun. Sie hat doch niemandem etwas getan. Sie war immer für sich, hat sich vollkommen isoliert. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie sich selbst zu bestrafen versuchte, aber ich verstehe nicht, warum.«
Die Frau schniefte und putzte sich die Nase, bevor sie fortfuhr:
»Die zwei Polizisten, die vorher hier waren, sagten, es habe wie ein Einbruch ausgesehen, bei dem irgendetwas schiefgegangen ist. Bei Ihnen klingt das jetzt ganz anders. Ermitteln Sie nicht mehr in diese Richtung?«
»Es deutet vieles darauf hin, dass dieser Mord kein Zufall war«, sagte Liv und sah, wie sich Lone Berendsens Gesicht unter Tränen zusammenzog.
»Oh mein Gott«, sagte sie und versteckte ihr Gesicht hinter der Serviette.
Liv blickte auf das Fotoalbum auf dem Tisch.
»Darf ich da mal einen Blick reinwerfen?«, fragte sie schließlich.
Die Mutter nickte und stand auf.
»Wenn Sie mich kurz entschuldigen würden«, sagte sie und verließ das Wohnzimmer.
Liv konnte sie im Badezimmer weinen hören, und der Kloß in ihrem eigenen Hals wurde noch dicker. Trotzdem öffnete sie das Album und begann die Bilder aus Mette Berendsens Kindheit zu studieren. Ganz gewöhnliche Bilder von einem ganz normal aussehenden Mädchen.
Nach einer Viertelstunde tauchte Lone Berendsen wieder auf, setzte sich neben Liv aufs Sofa und blickte ihr über die Schulter.
»Da waren wir in Österreich in den Skiferien«, sagte sie. »Mette war richtig gut, Sie hätten sehen sollen, wie sie die Pisten heruntergefegt ist. Als Kind war sie wirklich sportlich. Aber damit war Schluss, als sie ein Teenager war.«
Liv nickte und blätterte weiter. Fotos aus der Schule folgten.
»Da war sie in der sechsten Klasse.«
»Wer ist das, um den sie da den Arm gelegt hat? Mir ist aufgefallen, dass die beiden auf allen Schulfotos eng beieinander stehen.«
Lone Berendsen lächelte.
»Das war damals ihre beste Freundin. Bis es mit ihr bergab ging und Mette sich zu isolieren begann. Sie waren wirklich unzertrennlich.«
»Was ist passiert?«
»Sie ist verschwunden.« Lone Berendsen schüttelte kräftig den Kopf. »Eine merkwürdige Geschichte.«
»Verschwunden? Wie?«
Lone Berendsen zuckte die Achseln.
»Es weiß wohl niemand richtig, was geschehen ist. Aber eines Tages – Mette war damals dreizehn – ist ihre Freundin einfach nicht mehr zur Schule gekommen. Niemand hier hat sie mehr gesehen.«
»Kann sie nicht einfach weggezogen sein?«
Lone Berendsen schüttelte den Kopf.
»Der Rest der Familie wohnt ja noch immer hier. Unten im Gammel Strandvej.«
Liv zog die Augenbrauen zusammen.
»Wie hieß sie?«
»Katja Adelskov«, sagte Lone Berendsen und lächelte traurig.
Liv starrte die Frau an, deren Make-up mittlerweile auf der Serviette klebte. Dann notierte sie den Namen auf ihrem Block.
»Und Sie haben nie daran gedacht, das Verschwinden des Mädchens der Polizei zu melden?«
Lone Berendsen sah sie überrascht an.
»Nein, die Familie hätte sie doch selbst vermisst gemeldet, wenn etwas geschehen wäre. Vermutlich ist sie einfach irgendwo auf ein Internat geschickt worden.«
Das traurige Lächeln erstarb auf Lone Berendsens Gesicht. Nur die Trauer blieb zurück, als Liv ihr für den Kaffee dankte und mit dem Schulfoto in der Hand das kleine Einfamilienhaus am Sølvvej verließ.
21
Für Per Roland war eine Obduktion so, als würde er jemanden bei einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit beobachten. Jedes Mal, wenn er dem Rechtsmediziner bei der Arbeit zugesehen hatte, hatte er dieses Gefühl. Sein Ansatz war höchst vernünftig und ohne große Emotionen: Eine Leiche war schließlich nur ein toter Mensch, dessen Seele ihre kühle sterbliche Hülle längst verlassen hatte. Wohin sie entschwunden war, beschäftigte ihn nicht. Ihn interessierte, was mit dem Körper geschehen war, als die Seele noch darin
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