Blutspuk in Venedig
wiederholte: »Er verlor also sein Gesicht?«
»So war es.«
»Wie auch Sid Arnos?«
»Richtig.«
»Und wo war sein Gesicht?«
Claudia Ferrini lachte leise. »Auf diese Frage habe ich gewartet. Niemand weiß es genau. Vielleicht in der Maske. Sie wird sich sein Gesicht geholt haben. Sie wird sich, als er schon tot war, auf ihn gepreßt haben, um so zu einem Erfolg zu gelangen. Sein Gesicht oder die Reste sind also in die Maske integriert, die dann auch verschwand, wie ich aus alten Überlieferungen weiß. Aber sie tauchte immer wieder auf. Wie aus dem Nichts«, flüsterte sie uns zu, »erschien sie plötzlich. Immer dann, wenn jemand aus dem Clan starb, damit meine ich den jeweiligen Anführer. Und wieder raubte sie Gesichter und ließ die Leichen zurück. Nach jeder Aktion verschwand sie, und niemand traute sich, nach ihr zu suchen.«
Ich trank einen Schluck Grappa und sagte: »Aber wir haben sie letztendlich gefunden. In einer Säule des Palazzo versteckt.«
»Das hatten Sie schon auf der Fahrt hierher gesagt. Wobei ich noch immer nicht weiß, wie es geschehen konnte. Niemand kannte ihr Versteck, sie erschien, sie verschwand wieder. Viele haben nach ihr gesucht, vergeblich. Wie konnten Sie es schaffen?«
»Ich habe andere Methoden.«
»Aha…« Claudia lächelte kantig vor sich hin. »Aber Sie haben nicht das Feuer gelegt, schätze ich mal.«
»Das stimmt.«
»War es die Maske?«
»Im Prinzip schon. Ich habe nachgedacht und bin zu dem Resultat gelangt, daß sie zerstören wollte, weil ihr Versteck entdeckt worden war. Der Zauber oder die böse Magie war gebrochen, zudem gibt es ja keinen weiteren Clanführer mehr. Sie sind die letzte der Ferrinis, und Sie sind eine Frau. Wahrscheinlich wäre die Maske für alle Zeiten in ihrem Versteck geblieben, hätte nicht jemand versucht, den Palazzo zu kaufen. Das konnte sie nicht hinnehmen. Das Haus in die Hände einer anderen Familie zu geben? Um Himmels willen, so etwas war einfach unmöglich! Sie mußte also handeln, hat gemordet und ist nun frei. So sehe ich die Dinge, Signora Ferrini.«
»Gratuliere.«
»Ich komme also der Lösung nahe?«
»Ziemlich.«
»Sehr schön. Und was geschieht jetzt?«
Claudia Ferrini schaute uns wieder einmal aus ihren großen, dunklen Augen an. Es wurde still am Tisch. Wir konnten die anderen Stimmen der Gäste hören und kriegten auch mit, daß man sich über den Brand im Palazzo Ferrini unterhielt. »Eigentlich müßten Sie sich das doch denken können«, sagte sie leise.
Suko nickte. »Ich hoffe, daß meine Gedanken nicht den Folgerungen entsprechen.«
»Was weiß man schon«, erwiderte Claudia orakelhaft. »Ich gehe davon aus, daß sie es jetzt, wo sie freie Bahn hat, auch ausnutzen wird. Sie wird unterwegs sein und sich die Gesichter holen. Der Blutspuk von Venedig wird neuen und grauenvollen Auftrieb bekommen. Rechnen Sie damit, daß wir in den nächsten Stunden und Tagen zahlreiche gesichtslose Leichen in den Kanälen finden werden…«
***
Ja, ja, ja – wir hatten damit gerechnet. Aber wir hatten es nicht ausgesprochen. Es war zwar eine logische Folge des Erlebten, aber es war auch zu grauenhaft, um darüber nachdenken zu können oder zu wollen. Wir hatten schon des öfteren gegen heimtückische Killer gekämpft, gegen Phantome, gegen dämonische Bestien, aber eine mordende Maske, die menschliche Gesichter sammelte, war uns fremd und auch nicht gerade angenehm.
Ich schwieg und beobachtete die schmale Hand der Claudia Ferrini, deren Finger das Grappaglas umschlossen, es anhoben und zum Mund führten. Sie schüttete sich das scharfe Zeug in den Rachen, schüttelte sich und holte durch die Nase Luft. »Ich kann uns auch nicht helfen, aber es wird so laufen. Und wer soll sie stoppen? Sagen Sie nicht, die Polizei. Sie wird umherirren wie in einem Labyrinth, ohne zu wissen, wo vorn und hinten ist.«
»Das denke ich auch.«
»Und was wollen Sie dagegen unternehmen?« fragte Claudia.
»Schließlich sind Sie nicht grundlos hierhergekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie aufgeben möchten.«
»Das sicherlich nicht.«
»Wir werden die Maske jagen«, sagte Suko.
Beinahe mitleidig schaute Claudia ihn an. »Kennen Sie sich in Venedig aus?« fragte sie leise und auch etwas spöttisch. »Wissen Sie eigentlich, wie es hier aussieht? Wie viele Gassen, Plätze, Orte und Verstecke es hier gibt? Kennen Sie die Ecken und Winkel in dieser Stadt, die schon seit Jahrhunderten besteht? Ich will die Antwort nicht
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