Blutspur in East End
löcherigen Gardine heimtückische Blicke auf die versammelte Staatsmacht? Vielleicht lachte sich der Schlächter sogar ins Fäustchen, weil man ihn immer noch nicht erwischt hatte. Und jede Frau im East End lebte nachts in Angst und Schrecken.
Als sich Inspektor Brent Temple langsam zu Carol umwandte, schlug ihr Herz schneller. Sie hatte etwas Angst vor ihm, weil sie sich normalerweise vor Respektspersonen fürchtete. Doch gleichzeitig fühlte sie sich auch sehr zu ihm hingezogen, denn er war ein schöner Mann. Allerdings würde sie ihm wohl niemals wirklich nahekommen. Er gehörte nicht zu denen, die mit einem Mädchen wie Carol aufs Zimmer gingen. Das spürte sie deutlich, und ein Anflug von Traurigkeit legte sich wie ein Schatten über ihre Seele. Sie hatte immer gehofft, von einem Mann wie Brent Temple aus ihrem elenden Leben befreit zu werden. Doch das war aussichtslos.
„Sie sind die Zeugin, Miss?“
Seine Stimme war tief, ruhig und wohltönend. Carol bekam weiche Knie.
„Jawohl, Sir.“
„Wie lautet Ihr Name, Miss?“
„Carol Garner.“
„Sie sind sehr blass, Miss Garner. Ich bringe Sie fort von dieser Stätte des Blutes und des Grauens. Ich möchte mich in Ruhe mit Ihnen unterhalten.“
Carol glaubte zu träumen, als der Inspektor von Scotland Yard ihr seinen Arm anbot. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ihr lief ein angenehm kribbelnder Schauer des Wohlbefindens über den Rücken. Die Konstabler salutierten, als Brent Temple und Carol durch die Polizeiabsperrung traten. Der Inspektor führte sie an Aldgate vorbei Richtung Westen. Carol riss die Augen auf. Obwohl sie sich nur wenige Straßenzüge von Whitechapel entfernt hatte, befand sie sich nun in einer anderen Welt. Arm und Reich existierten in London dicht nebeneinander. Hier im vornehmen Mayfair liefen aber keine Ratten über die Straße. Die Häuser waren sauber und frisch gestrichen, die Fenster blank geputzt. Kinder spielten nicht in der schmutzigen Gosse, sondern wurden von Nannys mit gestärkten Hauben in die grünen Parks begleitet. Carol liebte diese Welt, die ihr so fremd war. Doch sie bemerkte auch die verächtlichen Blicke, die ihr zugeworfen wurden. Natürlich konnte jeder sehen, dass sie ein Freudenmädchen aus Whitechapel war. Aber der Inspektor hatte keine Probleme damit, sich mit ihr auf der Straße zu zeigen. Sie fühlte sich von ihm respektiert, und daher wuchs ihre Sympathie für ihn von Minute zu Minute.
Brent Temple lud sie in ein Teehaus ein. Obwohl der Kellner mit der weißen Schürze sich hochnäsig und arrogant verhielt, bestellte der Inspektor für sich und für Carol. Sie hatte noch niemals einen so guten Tee getrunken. Außerdem war es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie in einem so schönen Raum saß. Ehrfürchtig schaute Carol sich um. Das Teehaus mit seinen Marmortischen, dem polierten Parkettfußboden und den großen Spiegeln an den Wänden erschien ihr so prächtig wie der Palast von Königin Victoria.
Carol fühlte sich sehr wohl. Sie schaute Brent Temple an. Er hatte seinen Mantel ausgezogen. Wie die meisten Gentlemen trug er darunter einen schwarzen Gehrock und außerdem ein Hemd mit steifem Kragen. Carol hatte in ihrem Berufsleben als Freudenmädchen schon mehr als genug Herren aus den besseren Kreisen kennengelernt. Nur war noch keiner von ihnen so freundlich zu ihr gewesen wie dieser Inspektor von Scotland Yard.
„Geht es Ihnen jetzt etwas besser, Miss Garner? Fühlen Sie sich dazu in der Lage, meine Fragen zu beantworten?“, fragte er einfühlsam.
„Jawohl, Sir.“
„Haben Sie das Opfer Tricia Lloyd gekannt? Und wenn ja, wie lange?“
„Seit einigen Monaten.“
„Und woher, wenn ich fragen darf?“
Carol errötete, was ihr äußerst selten passierte.
„Wir – Tricia und ich – wir üben denselben Beruf aus“, antwortete sie leise, wobei sie Brent Temple nicht in die Augen blicken konnte.
„Sie müssen sich nicht schämen, Miss Garner. Sie verdienen sich nur Ihren Lebensunterhalt. – Sehen Sie sich doch in diesem Teehaus einmal um. Was glauben Sie, wie viele von den Gentlemen hier sich abends nach Whitechapel schleichen, wenn es ihnen bei der Gattin zu langweilig wird? Ich wette, dass fast jeder von ihnen schon einmal mit einem Mädchen wie Ihnen aufs Zimmer gegangen ist. Doch nach außen hin spielen diese Männer die Moralapostel.“
Carol konnte nur nicken. Diese Verlogenheit war ihr noch niemals so bewusst gemacht worden wie in diesem Moment. Und schon gar nicht von einem
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