Blutspur in East End
Aber das musste sie ja Eve nicht auf die Nase binden. Ihre Mitbewohnerin brauchte schließlich nicht alles zu wissen.
„Ich würde dich gern zur Boutique begleiten, aber ich habe heute Vormittag eine Klausur mit Anwesenheitspflicht.“
„Ich dachte, es sind Semesterferien.“
„Ja, das ist aber ein Nachschreibetermin. Ich habe beim ersten Mal gefehlt, und da kennt der Professor keine Gnade. Wenn ich heute auch nicht komme, muss ich das Semester wiederholen.“
„Ich fahre allein zur Boutique. Ich muss mich ja auch langsam in meiner neuen Heimat einleben.“
„Du wirst es nicht bereuen, Carol. Tricias Arbeitsplatz befand sich in den Docklands, das ist ein ganz besonderer Teil von London.“
Natürlich hatte Carol schon von den Docklands gehört und auch einen Bericht im Fernsehen gesehen. Doch es war ein ganz anderes Erlebnis, selbst dorthin zu fahren. Schon von dem vollautomatischen Zug der Docklands Light Railway aus konnte sie den faszinierenden Blick auf die Mischung aus alten Industriedenkmälern und modernster Architektur genießen. Von Tricia wusste Carol, dass in den Docklands hauptsächlich junge Leute mit gut bezahlten Jobs lebten und arbeiteten. Es gab Yachthäfen, coole Bars und Restaurants – und natürlich Shopping-Möglichkeiten ohne Ende.
Tricia war in einer Edel-Boutique namens Spizo’s angestellt gewesen. Carol ging dort hinein wie eine normale Kundin. Sie beschloss, sich nicht als Freundin von Tricia vorzustellen. Schließlich wollte sie sich unauffällig umsehen. Zum Glück war kurz vor Carol eine ganze Busladung junger Belgierinnen ins Spizo’s eingefallen, sodass sich in dem Gedränge niemand um Carol kümmerte.
Die Designer-Outfits waren großartig, aber sie sprengten Carols schmales Budget. Außerdem war sie nicht zum Shoppen gekommen. Stattdessen brannte sie darauf, diese Jeanie Wilde unter die Lupe zu nehmen. Carol hatte kein Foto von ihr, aber bei ihren Telefonaten hatte Tricia ihre Arbeitskollegin immer als „durchgeknallte Amazone mit schwarzer Mähne“ bezeichnet.
Eine junge Frau mit lang auf den Rücken wallendem dunklem Haar fiel Carol tatsächlich schon nach kurzer Zeit ins Auge. Sie scheuchte einige der Belgierinnen hektisch weg, weil sie Ware auffüllen wollte. Das alles beobachtete Carol aus sicherer Entfernung. Es musste sich um Jeanie Wilde handeln. Diese Frau war ihr genauso unsympathisch, wie Tricia sie beschrieben hatte. Aber weshalb hätte sie Carols Freundin töten sollen?
Plötzlich fiel Carol eines der letzten Telefonate mit Tricia ein. „Heute hat Jeanie irgendetwas mit den Warenbestandsdateien gemacht. Ich kam rein, ohne anzuklopfen. Sie fuhr von ihrem Stuhl hoch, als wäre sie plötzlich von einer Tarantel gestochen. Dann blökte sie mich an, was ich im Büro zu suchen hätte. Dabei wollte ich nur eine Schere holen. Ich hätte schwören können, dass sie am PC Daten manipuliert hat. Na ja, geht mich ja nichts an. Schließlich ist das nicht mein Laden. Ich will einfach nur von dieser Sumpfkuh in Ruhe gelassen werden. Aber das wird wohl nichts, die legt sich nämlich mit jedem an.“
Das waren Tricias Worte gewesen, obwohl Carol sich nicht an jedes einzelne davon genau erinnern konnte. Sie fragte sich, warum sie nicht Inspektorin Victoria Shepley davon erzählt hatte. Doch was hätte die Polizistin schon tun können? Carol hatte etwas von Tricia erfahren, aber das war nur Hörensagen. Und so etwas zählte nicht in einer polizeilichen Untersuchung. Sie hatte schon genug Krimis gelesen, um darüber Bescheid zu wissen. Nein, sie brauchte harte Fakten, die gegen Jeanie Wilde sprachen. Wenn die Verkäuferin wirklich in den Mordfall Tricia Lloyd verwickelt war, würde sich das hoffentlich beweisen lassen.
Offenbar waren die Docklands ein beliebtes Ausflugsziel. Als eine weitere Ladung von Bustouristen die Edel-Boutique stürmte, nutzte Carol die Gelegenheit und verschwand durch eine Tür, auf der Personal stand.
Ihr Herz klopfte laut, während sie vor Aufregung zitterte und sich nur allmählich beruhigen konnte. Dabei wusste sie noch gar nicht so genau, wonach sie eigentlich suchte. Von dem schmalen Flur, in den sie sich geschlichen hatte, gingen einige Türen ab. Hinter der ersten befand sich eine Toilette. Die zweite gehörte zu einem fensterlosen Abstellraum, in dem sich Besen, Aufnehmer und andere Putzutensilien befanden. Die dritte Tür führte in einen Aufenthaltsraum mit einem großen Fenster, durch das die Themse und die ehemaligen West India
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