Blutstein
er nun in einer Art Dämmerzustand, murmelte vor sich
hin, und selten schlug er für einen Moment die Augen auf. Die meiste Zeit
schlief er.
Per saß bei Jerry und musste daran denken, dass sein Vater sich kein
einziges Mal hatte blicken lassen, als seine Mutter Anita im Sterben gelegen
hatte. Er hatte noch nicht einmal angerufen. Drei Tage vor ihrem Tod war eine
Karte mit dem Aufdruck »Gute Besserung« eingetroffen. Per hatte sie weggeworfen,
ohne sie seiner Mutter zu zeigen.
Dann dachte er darüber nach, wann sie beide, Vater und Sohn, sich
nahegestanden hatten, in den fast fünfzig Jahren, die sie sich nun kannten. Als
er ein Kind war? Nein. Aber auch nicht später, als Erwachsene. Er konnte sich
nicht an eine einzige Stunde der Nähe erinnern – vielleicht waren diese Momente
jetzt an seinem Krankenbett die intensivsten.
Ich müsste ihm
etwas sagen , dachte sich Per. Ich müsste ihm jetzt meine Meinung sagen, alles
loswerden und mich danach besser fühlen.
Aber er sagte kein Wort. Er wartete nur.
Als er am Samstag in die Krankenhauskantine ging, um zu Mittag zu
essen, sah er die Schlagzeile der Zeitung im Zeitungskiosk.
Doppelmord im Pornostudio
Jetzt waren diese Neuigkeiten endlich in der Welt. Sex und Gewalt in
einer Überschrift, das war für einen Redakteur natürlich das Größte. Per kaufte
sich die Zeitung, erfuhr aber nichts Neues. Dort stand nur, dass die Polizei
wegen Brandstiftung und zweifachen Mordes ermittelte. Und dass das Anwesen »dem
berühmt-berüchtigten Pornoregisseur Jerry Morner« gehörte. Neben dem Artikel
war ein Schwarz-Weiß-Foto von Jerry aus den Siebzigerjahren abgedruckt, auf dem
er lachte und eine Ausgabe von Babylon in die Kamera hielt. Kein Wort darüber, dass er jetzt im Krankenhaus lag – es
wurde nur erwähnt, dass er für einen Kommentar nicht zur Verfügung stand.
Kommissar Marklund kam am Sonntag gegen drei Uhr nachmittags ins
Krankenhaus, Per traf ihn vor Jerrys Zimmer.
»Ich bin auf dem Weg zurück nach Växjö«, Marklund sprach mit gedämpfter
Stimme. »Wie geht es ihm? Hat er etwas gesagt?«
»Er ist noch nicht richtig aufgewacht. Sie gehen von massiven
Hirnschäden aus.«
Marklund nickte.
»Haben Sie den Fahrer gefunden?«, fragte Per.
»Noch nicht, wir suchen die Autobahnen ab und haben am Tatort auch
Reifenspuren gesichert. Der Wagen muss einen deutlich sichtbaren Blechschaden
davongetragen haben, deshalb überprüfen wir auch die Autowerkstätten. Und wir
suchen Zeugen.«
Per warf einen Blick über die Schulter zu Jerrys Krankenzimmer.
»Es muss jemand gewesen sein, den Jerry kannte. Er stieg ja gerade
aus, als ich da vorbeifuhr. Also muss er vor dem Polizeipräsidium freiwillig
eingestiegen sein.«
»Haben Sie den Fahrer erkannt?«
Per verneinte.
»Haben Sie das Nummernschild sehen können?«
»Ich war zu weit weg, er stand auf der Brücke. Es war ein
dunkelroter Pkw. Ich glaube, denselben haben wir auch vor ein paar Tagen in der
Nähe unseres Sommerhauses auf Öland gesehen.«
Marklund holte seinen Notizblock hervor.
»Erinnern Sie sich an irgendwelche Details?«
»Nicht an viel ... Das Nummernschild war schwedisch, und der Wagen war
ein Ford, ein alter Ford Escort, glaube ich.« Erschöpft sah er den
Polizeibeamten an. »Hilft Ihnen das?«
Marklund klappte den Block zu.
»Man weiß nie.«
Aber Per begriff, dass es kaum ein Fingerzeig war.
Jerry versank immer tiefer in seinen Dämmerzustand, nur seine Augen
zuckten ab und zu hinter den geschlossenen Lidern. Er atmete flach und murmelte
aus dem Zusammenhang gerissene Wörter. Die meisten klangen, als würde er eine
lange Reihe schwedischer Namen aufzählen, meistens weibliche:
»Josefine, ja ...«
»Amanda ...«
»Charlotte?«
»Susanne, was willst du von mir?«
Der Name von Pers Mutter fiel kein einziges Mal, und auch Regina war
nicht dabei.
Im Lauf des Tages wurde seine Atmung immer flacher und schwächer,
doch hin und wieder murmelte er noch Namen, die Per wiedererkannte:
»Bremer ...«
»... Moleng Noar ...«
»... und Markus Lukas, so krank ...«
Gegen acht Uhr am Sonntagabend, Per war kurz davor, einzunicken,
schlug Jerry plötzlich die Augen auf, sah ihn an und flüsterte mit klarem
Blick:
»Pelle?«
»Ja, ich bin hier«, sagte Per. »Es ist alles in Ordnung, Papa.«
»Gut, Pelle ... gut.«
Per beugte sich zu seinem Vater vor.
»Wer war es?«, fragte er ihn. »Wer hat den Wagen gefahren?«
»Bremer.«
»Der kann es nicht gewesen sein.«
Aber Jerry nickte
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