Blutstein
kleinen Bauernhof noch anstrengender macht. Henry Fors’ Interesse für
den Sternenhimmel entwickelt sich zu einem regelrechten Weltraumfieber.
In diesem Herbst ist er allerdings auch nicht der Einzige, dem es so
ergeht.
Alles beginnt an einem Samstagabend, als Henry eine Nachrichtensendung
im Radio hört und etwas Ungeheuerliches erfährt – die Sowjetunion hat den
ersten künstlichen Erdsatelliten mit einer Rakete in den Weltraum geschossen,
und er befindet sich bereits auf der Erdumlaufbahn. Der Satellit heißt Sputnik
und ist eine runde Metallkugel, die nicht mehr als einen Meter Durchmesser hat.
Henry sitzt am Küchentisch und lauscht gespannt dem
Rundfunksprecher.
»Sputnik«, wiederholt er. »Stell dir das mal vor ...«
Dann springt er hinaus auf die Treppe, legt den Kopf in den Nacken
und starrt hoch in den Weltraum. Lange steht er so, dann kommt er zurück in die
Küche.
»Ich habe ihn gesehen!«, ruft er Vendela aufgeregt zu und zieht sie
mit sich hinaus in den Garten. Sie stehen nebeneinander und sehen in den
Nachthimmel. Die Sterne leuchten, Henry sucht konzentriert den Himmel ab und
deutet schließlich hinauf.
»Dort oben ist er!«
Vendela starrt in den unendlichen schwarzen Raum über sich. Sie
sieht zahllose Sterne – wie ein schwach funkelnder Teppich aus Eiskristallen in
einem schwarzen Meer. Henry behauptet steif und fest, dass sich einer von ihnen
bewegt.
»Da! Siehst du ihn denn nicht?«
Mehrere Minuten lang starrt Vendela auf einen Fleck am Firmament,
dann gibt sie auf. Sie dreht sich zum Haus um und sieht hoch zu den Fenstern im
ersten Stock.
Das mittlere ist schwach erleuchtet, sie sieht einen Schatten hinter
der Glasscheibe, und Vendela weiß, dass der Invalide mit dem Rollstuhl ans
Fenster gerollt ist, um in den Sternenhimmel sehen zu können.
Einen Monat später wird ein zweiter sowjetischer Satellit ins
Weltall geschickt, Sputnik 2 .
Dieser ist größer und schwerer und hat einen kleinen Hund namens Laika an Bord.
Vendela tut Laika leid, sie bekommt kaum Futter und hat keine Chance, die
Rückkehr zur Erde zu überleben, sondern stürzt mit dem Satelliten ins Meer.
»Aber sie hat den Druck und die Schwerelosigkeit ausgehalten!«,
schwärmt Henry. »Das heißt, dass auch Menschen das bald tun können.«
Voller Hoffnung und Begeisterung sieht er Vendela an. Aber sie denkt
nur an Laika, die so ganz allein im weiten, dunklen Weltall ist. Die Kühe auf
der Weide sind wenigstens zu dritt.
Im Lauf des Winters gelingt es den Amerikanern, ebenfalls einen
Satelliten namens Explorer ins Weltall zu schicken, aber der kann über
Nordeuropa nicht gesehen werden. Doch das muss Henry auch nicht, um zu
erkennen, dass ein Wettkampf begonnen hat, ein Wettlauf, den er gespannt im
Radio und in den Zeitungen verfolgt. Von seiner nächsten Reise nach Borgholm
kehrt er mit dem Sachbuch Satelliten
und Raumschiffe zurück, aus dem er jeden Abend vorliest.
»Die Russen werden bald eine Rakete zum Mond schicken«, erzählt er
ihr eines Abends. »Der Flug dorthin dauert nur hundertsiebenundfünfzig Stunden.
Das geht schneller, als mit dem Schiff nach Amerika zu fahren.«
Danach zieht er sich in sein Zimmer zurück. Als sie später zu ihm
reingeht, um ihm eine gute Nacht zu wünschen, sitzt er mit Stift und Papier auf
seinem Bett und zeichnet Kreise.
»Was malst du denn da?«
Henry sieht hoch.
»Umlaufbahnen.«
Ihr Vater hat ein Glühen in den Augen, wie sie es noch nie zuvor bei
ihm gesehen hat, schon gar nicht bei der Arbeit auf dem Hof. Da weiß sie, dass
er sich um die Landwirtschaft und das Vieh in Zukunft noch weniger kümmern
wird.
Die Winterstürme türmen Neuschnee zu riesigen, gefrorenen
Schneewehen auf, und Vendelas Schulweg quer durch die Alvar ist versperrt.
Monatelang muss sie weite Umwege gehen.
Ende März kommt endlich die Sonne zurück, und ihr Vater schenkt ihr
ein Paar Stiefel, die der alte Schuster im Ort angefertigt hat, Schuh-Paulsson.
Sie sind schlecht vernäht, und es dringt Wasser ein, aber wenigstens führt ihr
Schulweg sie jetzt wieder über die Alvar an den schmelzenden Schneewehen
vorbei.
Und sie kann den Elfenstein wieder besuchen.
In Lauf des Frühlings bedient sich Vendela immer wieder beim
Schmuckkästchen ihrer Mutter. Ein Stück nach dem anderen nimmt sie an sich, um
es auf dem Weg zur Schule am Stein zu opfern. Ihr Vater scheint den Diebstahl
nicht zu bemerken, er ist vollends damit beschäftigt, den Sternenhimmel zu
beobachten und die Umlaufbahnen der
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