Bluttrinker (German Edition)
ihr auf diese Weise
Angst einzujagen. Drei Mal täglich schluckte sie große, weiße Tabletten, die
sie einem Röhrchen entnahm, das mit dem Namen eines starken Herzmedikaments
beschriftet war. Tonys Großmutter hatte die gleichen Tabletten nehmen müssen.
Allerdings war sie damals bereits über achtzig gewesen. Bei jeder größeren
Anstrengung oder kleineren Aufregung hatte Margarethe nach Luft gerungen und
die Hand auf ihre Brust gepresst. In panischer Angst den Tod ihrer Mutter auf
ihr Gewissen zu laden, hatte Tony alles in ihrer Macht stehende getan, um
selbst die kleinste Missstimmung zu vermeiden. Eine harte Zeit für die damals
Zwanzigjährige, die sich praktisch jedes Vergnügen, das ihre Altersgenossen
sich gönnten, verkniff, in der Furcht, ihre Mutter könnte sich aufregen.
Bis eines Tages eine ehemalige Schulkameradin beim Hausarzt der Familie die
Stelle der Sprechstundenhilfe übernahm. Tony kam wegen einer Halsentzündung in
die Praxis. Sie befürchtete, ihre Mutter könnte sich anstecken und fragte ihre
alte Freundin um Rat. Wie würde sich eine schwere Erkältungskrankheit wohl auf
das Herzleiden ihrer Mutter auswirkten?
Als Tony die Arztpraxis verließ, wusste sie, dass sich in der Verpackung, die vermutlich
noch von ihrer Großmutter stammte, Vitamintabletten befanden. Nicht, dass sie
diese Erkenntnis auch nur mit einem Wort erwähnt hätte.
Beim Abendessen teilte sie ihren Eltern mit, dass sie die
von ihrer Mutter gewünschte Ausbildung zur Erzieherin abbrechen würde. Sie
würde sich ein Zimmer suchen und studieren. Margarethe war geschockt. Aber
irgendetwas musste in Tonys Stimme gewesen sein, was jeden Widerspruch im Keim
erstickte.
An diesem Tag war Tony endgültig klar geworden, dass es
ihrer Mutter nicht um Liebe, sondern um Macht ging. Eine Weile hatte sie
geglaubt, mit diesem Wissen den Einfluss ihrer Familie abschütteln zu können.
Doch das perfide war, dass ihre Erkenntnis nichts an ihrem Bedürfnis änderte,
geliebt zu werden. Obwohl sie mit dem Verstand erkannte, dass ihre Mutter dazu
wahrscheinlich gar nicht in der Lage war.
Während sich die vertraute Wut über Margarethes
Machtspielchen in ihrem Bauch zusammenbraute, erkannte Tony, dass sich etwas
Entscheidendes verändert hatte.
Lukas liebte sie!
Nora war ihr innerhalb kürzester Zeit die beste Freundin geworden, die sie je
gehabt hatte und selbst der anfangs so finster erscheinende Johann ließ keinen
Zweifel daran, dass er sie als Familienmitglied betrachtete.
Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Tony sich frei. Frei zu sein, wie sie
tatsächlich war. Das hatte nichts mit der von Nora so sorgfältig arrangierten
Verkleidung zu tun. Die war lediglich Mittel zum Zweck. Nora würde niemals von
ihr verlangen, dass sie ihre Gefühle verleugnete.
Tony ging zu der gepolsterten Bank, die am Fußende des
Bettes stand, und ließ sich wortlos darauf nieder. Die forschenden Augen ihrer
Mutter registrierten angewidert das riesige, ungemachte Polsterbett. Tony
wusste, die entsprechenden Kommentare verkniff sie sich nur vorläufig, weil sie
zu ihrer momentanen Leidensmiene nicht passten. Ein kleiner Teufel in Tonys
Hinterkopf ärgerte sich beinahe darüber, dass Nora ihr geholfen hatte, den
Deckenspiegel hinter einem cremefarbenen Seidenlaken zu verstecken, das jetzt
wie ein Baldachin über dem Bett hing.
„Ich begreife dich nicht, Antonia! Oh …“ Mit
schmerzverzerrtem Gesicht drückte Margarethe ihre Hand noch fester an ihre
magere Brust.
„Mama, hör auf damit! Ich weiß, dass du nicht herzkrank bist.“
Verblüfft beobachtete Tony, wie schnell ihre Mutter ihre verkrümmte Haltung
aufgab. Ihre Augen blitzten wütend.
„Das Herz tut mir weh, wenn ich sehe, wie du dein Leben zerstörst“, zischte sie
boshaft. „Wie du es wegwirfst wegen dieser ... siehst du denn nicht, was das
für Menschen sind? Ich hätte niemals geglaubt, dass eines meiner Kinder so
oberflächlich sein könnte. Ja, dieser Junge sieht gut aus. Aber sieh dir den
Vater an, und du weißt, was dir bevorsteht. Heute bist du vielleicht noch jung
und hübsch genug, um mit diesen Leuten mitzuhalten. Was wird in ein paar
Jahren? Ich will gar nicht darüber nachdenken, wie die arme Frau sich fühlen
muss, die wirklich die Mutter dieses Jungen ist. Abgeschoben, wegen diesem
Flittchen. Sogar ihr eigener Sohn hat sie vergessen.“
„Sie ist gestorben, Mama“, unterbrach Tony. Plötzlich fiel ihr die Geschichte
wieder ein, die Lukas für neugierige Sterbliche parat hatte.
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