Blutzeichen: Deadly Sins 2 - Roman (German Edition)
ihre Untergebenen sich in der Nähe befanden. Oder sie hatten sich sowohl von den Fesseln der Hölle als auch von den Hexen, die sie riefen, befreit und die Gegenden, in denen sie ihr Unheil trieben, aus einem anderen Grund ausgewählt. So oder so berührte der Dämon ein Opfer – physisch, aber nicht zwangsläufig durch direkten Körperkontakt – und raubte ihm sein Gewissen. Fortan wurde der betreffende Mensch in all seinem Denken und Tun von der Todsünde gelenkt. In Santa Louisa hatte der Dämon Neid für Chaos gesorgt. Es war zu Plünderungen, Aufständen und Ge waltausbrüchen gekommen. Nachdem der Dämon gefangen war, schienen die Betroffenen die Kontrolle über ihre Triebe zurückzugewinnen und waren fähig, den Verlockungen unbändigen Neids zu widerstehen.
Trotzdem war die Stadt nicht mehr dieselbe. Skye wollte es nicht zugeben, doch Rafe sah es. Bevor der Dämon in die Stadt gekommen war, hatte Rafe bereits monatelang als Außenseiter dort gelebt, und ihm entging der Wandel nicht. Vor den Dämonen war die ruhige Gemeinde Santa Louisa, eingebettet zwischen dem Meer und den Los Padres Mountains, ein Hort der Freundlichkeit und Güte gewesen. Die Nachbarn halfen einander, veranstalteten Picknicks im Park, und die Kinder spielten Ball oder fuhren unbekümmert mit ihren Rädern durch die Straßen. Rafe hatte die Normalität der Kleinstadt als Wohltat empfunden, und es gefiel ihm, dass jeder jeden kannte.
Und heute? Die Gewalt, die der Dämon Neid schuf, hatte Familien und Freundschaften zerbrochen. Das Gefängnis war voll, die Prozessliste des Gerichts quoll mit Anklagen gegen Leute über, denen der Dämon Neid ihr Gewissen geraubt hatte. Misstrauen, die Nachwehen von der Anwesenheit des Neids und Gewalt warfen ihre unsichtbaren Schatten über alle, die Betroffenen wie die Unbeteiligten.
Rafe fühlte es, egal, wie hartnäckig Skye es leugnete. Und es beunruhigte ihn.
»Verblüffend«, sagte Takasugi. »Und das ist Ihnen bei der Erstuntersuchung nicht aufgefallen? Dann sollte ich mir wohl die Schädel meiner anderen Leichen noch einmal vornehmen.«
»Das erste Opfer wies eine ausgeprägte Neovaskularisierung des Hirnstamms mit sekundärer Aneurysmenbildung auf. Er brach zwei Stunden nach einem Basketballspiel zusammen und starb binnen dreißig Minuten. Beim zweiten Opfer sah ich zunächst keinen Hinweis für eine solche Diagnose, bis ich vor zwei Tagen eine Untersuchung unter dem Mikroskop vornahm. Beide scheinen neue Blutgefäße ausgebildet zu haben, die das Stammhirn versorgten, und zeigten eine vergrößerte Amygdala.«
»Das Stammhirn?« Zum ersten Mal ergriff Rafe das Wort.
Die Wissenschaftler hatten ihn offenbar völlig vergessen. »Ja«, bestätigte Fielding, der ihn interessiert ansah.
Rafe schüttelte den Kopf, denn was er dachte, war wahr scheinlich Unsinn. Er hatte Psychologie studiert, keine Forensik. Deshalb wartete er lieber auf mehr Informationen.
»Die Amygdala ist vor allem für das Gedächtnis und emotionale Reaktionen zuständig«, erklärte Fielding. »Dass sich zusätzliche Blutgefäße von der Amygdala zum Stammhirn bil den, ist ungewöhnlich.«
» Höchst ungewöhnlich«, korrigierte Takasugi.
»Kann das zu irrationalem Verhalten führen?«, fragte Rafe, der seine Worte mit Bedacht wählte. Die Psychologie war eine unvollkommene Wissenschaft – menschliche Wesen ließen sich nicht in Schablonen pressen –, aber soziopathisches Verhalten hatte immer eine Ursache. In seltenen Fällen war es ererbt, häufiger jedoch dem Umfeld geschuldet. Mit anderen Worten: Einmal lag es an den Genen, einmal an der Erziehung beziehungsweise an deren Mangel.
Dank ihrem Gewissen konnten die Menschen ihren primitiven Hang zu Gewalt, Lust und Gier überwinden. Ohne dieses Hemmnis hingegen kannte die Anarchie keine Grenzen. Und darum war die Befreiung der sieben Todsünden so fatal. Dämonen auf Erden waren schon schlimm genug, aber wenn die Menschen sich genauso benahmen wie sie? Gewalt ohne Reue, verbrannte Erde, Zerstörung allerorten, Chaos, Endzeit – das wären die Folgen.
Takasugi erklärte: »Das Gehirn ist das komplexeste mensch liche Organ, und die Bereiche davon, die wir kennen, sind verschwindend klein gemessen an denen, die wir noch nicht erforscht haben. Die Amygdala regelt auch die Produktion von Pheromonen, Adrenalin und andere chemische Reaktionen. Eine deformierte oder beschädigte Amygdala könnte sich in einer Vielzahl von Symptomen äußern, angefangen bei Kopf schmerzen
Weitere Kostenlose Bücher