Boeses Spiel in Oxford
ehe sie zum Haus Nummer 12 zurückjoggte. Als sie an Kates Haus vorüberkam, blickte sie nach oben, sah Kate, winkte erneut und rief: »Hallo Katie!«, und zwar in einer Lautstärke, dass Kate sie mühelos durch das geschlossene Fenster hören konnte. Als Antwort formte sie ein gutnachbarschaftliches »Hallo!« mit den Lippen.
»Sollen wir uns nicht heute Abend noch einmal auf einen kleinen Plausch treffen?«, schrie Laura so laut, dass die gesamte Agatha Street es hören konnte. Ebenso gut hätte sie gleich sämtliche Anwohner einladen können. Mit der guten Nachbarschaft kann man es auch übertreiben, dachte Kate boshaft und antwortete mit einem unbestimmten Winken, von dem sie hoffte, das es sie zu nichts verpflichtete. Auch wenn Laura und Edward sicher ausgesprochen freundlich und hilfsbereit waren, sollte man die Zahl der Zusammenkünfte vielleicht doch auf höchstens ein Mal in der Woche beschränken. Außerdem würde sich Laura vermutlich ihrem Auftrag widmen müssen, genau wie sich Kate mit ihrem neuen Roman beschäftigen musste. Doch zunächst einmal genoss sie ihren Kaffee.
Laura war inzwischen in ihrem Garten verschwunden. Auch Edward kam wieder zum Vorschein, immer noch mit Werkzeugkasten und Bohrer bewaffnet, allerdings wirkte sein Gesicht nicht mehr ganz so munter. Vielleicht hatte Jeremy es abgelehnt, sich beim Aufbau der Regale helfen zu lassen. Auch Edward verschwand aus Kates Blickfeld, und sie hörte, wie sich die Haustür von Nummer 12 hinter ihm schloss.
Höchstens fünf Minuten später tauchte die junge Frau im schwarzen Kleid aus Nummer 8 auf und warf einen durchdringenden Blick in Richtung Nummer 12, ehe sie ihre Autotür aufschloss. Kate erhaschte einen flüchtigen Blick auf große, dunkle Augen, einen breiten Mund, blassen Teint und einen wütenden Gesichtsausdruck. Dann wandte die junge Frau sich ab. Die Sonne spielte auf ihrem Haar und ließ es feuerrot aufleuchten. Ob ich diese Farbe auch einmal ausprobieren soll?, überlegte Kate. Nein – lieber doch etwas weniger Verkehrsgefährdendes.
Die Autotür knallte vernehmlich. Offenbar war die Lady stinksauer. Gut, dachte Kate, das war Aufregung genug für einen Vormittag. Und jetzt ab an die Arbeit! Zum zweiten Mal an diesem Morgen ging sie die Treppe zum Arbeitszimmer hinunter.
Auf Jeremys Seite war es immer noch ruhig. Die Fosters hingegen – möglicherweise angeregt von ihrem Besuch in Nummer 8 – führten ein lebhaftes Gespräch miteinander, wobei sich einer der beiden offenbar im ersten Stock, der andere jedoch im Erdgeschoss aufhielt. Gerade als sich Kate an den neuen Geräuschpegel gewöhnt hatte und mit einem Stift auf ihrem Block herumkritzelte, begannen die Nachbarn, eine neue Klangqualität in Form eines Stakkatos aus Türenschlagen und lautstarkem Treppen-hinauf-und-hinunterPoltern zu erzeugen.
Das macht dir nichts aus, redete Kate sich verbissen ein. Du hast ausreichend Kraft, dich zu konzentrieren und über ein wenig ablenkenden Lärm hinwegzuhören. Hastig notierte sie ein paar Namen für ihre Geschichte. Dorothy. Arthur. Enid. Sie hatte die Idee gehabt – genau genommen war es ein Einfall ihrer Mutter gewesen –, den Roman in der Zeit des Zweiten Weltkriegs anzusiedeln. Schon als sie noch mit George zusammenlebte, hatte sie mit ihrer Agentin Estelle die Grundidee weiter ausgebaut. Dass sie inzwischen ihre Ansicht über George geändert hatte, musste noch lange nicht bedeuten, dass ihr Buch ebenfalls unverwirklicht bleiben würde. Die Namen, die sie aufgelistet hatte, klangen doch original nach den vierziger Jahren, nicht wahr? Sie würde also mit Spitfire Lovers weitermachen (obwohl sie mit dem Titel noch nicht ganz zufrieden war und hoffte, dass ihr vor Beendigung des Buches etwas Besseres einfiel).
Kate schrieb »Kapitel 1« in die erste Zeile einer neuen Seite. Sie hatte vor, mit einem kurzen Dialog zu beginnen. Zum Beispiel zwischen Dorothy und Enid. »Hallo, Dorothy«, schrieb sie.
Im angrenzenden Zimmer auf Fosters Seite hatte jemand den Fernseher eingeschaltet. Kate hörte Gewehrschüsse, quietschende Reifen und schließlich streitende Stimmen. Das Getöse vertrieb den netten, kleinen Eröffnungsdialog aus Kates Kopf. Mist! Auf diese Weise würde sie nie mit dem Buch fertig werden. In einem anderen Zimmer von Nummer 12 wurde ein Bohrhammer in einen äußerst widerstandsfähigen Backstein getrieben. Kate seufzte. Dagegen gab es nur ein Mittel.
Sie ging nach oben ins Bad und öffnete den Wandschrank.
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