Boeses Spiel in Oxford
Irgendwo mussten Ohrstöpsel sein. Ja! Da waren sie. Gelbe Schaumstoffstöpsel. Sie drückte sie sich in die Ohren. Immer noch hörte sie ein gedämpftes Dröhnen. Oder war es nur das Geräusch des Blutes in ihren eigenen Adern? Eher nicht. Sie suchte den Kopfhörer, den sie normalerweise zusammen mit ihrem Walkman benutzte, und setzte ihn auf.
Jetzt war es besser. Kate hörte nichts anderes mehr als ihre eigenen Gedanken und kehrte zufrieden an ihren Schreibtisch zurück.
Sie starrte auf die Seite, die mit »Kapitel 1« überschrieben war. Warum fiel ihr bloß nichts ein? Wie sollten die Figuren noch heißen? Avril? Marjorie? Kate beschloss, dass es der A4-Block sein musste, der ihre Kreativität beeinträchtigte. Sicher würde sie am Computer sehr viel besser vorankommen.
Sie drückte den Einschaltknopf, und das Gerät erwachte zum Leben. Gott sei Dank! Kate wusste, dass Roz den Rechner benutzt hatte, während sie in diesem Haus logierte, und konnte daher einigermaßen sicher sein, dass er nicht an Vernachlässigung eingegangen war – oder woran Computer eben so dahinsiechten, wenn sie monatelang nicht beachtet wurden. Der Bildschirm blinkte zwei Mal auf und zeigte dann den vertrauten Desktop. Immerhin hatte Roz ihn nicht verändert. Nach etwa zwei Minuten schaltete sich der Bildschirmschoner ein, den Kate im vergangenen Jahr installiert hatte – im vergangenen Jahr! – und ermahnte sie: IMMER SCHÖN WEITERMACHEN, KATE. Die großen, gelben Buchstaben verschwanden langsam am linken Bildschirmrand und kamen oben rechts wieder zum Vorschein. Schon gut, schon gut. Hör auf zu nörgeln!
Dorothy. Enid. Plötzlich fielen Kate die Namen wieder ein. Dahinter steckten Frauen in den Vierzigern. Sie unterhielten sich darüber, wie problematisch es war, ihre Familien mit den mageren Rationen zu ernähren. Eine der beiden hatte eine flatterhafte Tochter – die musste natürlich Avril heißen.
Kate begann zu tippen, zunächst noch zögernd, doch dann nahm die Geschichte plötzlich Gestalt an, und sie schrieb wie besessen. Aus dem kurzen Dialog entwickelte sich eine drei Seiten lange Unterhaltung. Weitere Gestalten gesellten sich zu Dorothy und Enid. Es dauerte einige Zeit, ehe Kate ihren Schreibfluss unterbrach. Wie viel Fleisch stand einer Person im Sommer 1942 genau zu? Aus dem Stegreif konnte sich Kate nicht erinnern. War es überdies möglich, dass Avril ihre Mutter anrief? Oder waren die Telefonleitungen in diesen Kriegszeiten ständig unterbrochen? Die Antworten auf diese Fragen würde sie wohl in den Notizen zu ihren Recherchen finden.
Erst in diesem Moment fiel ihr auf, dass sie ihre Notizen und Karteikarten bisher noch gar nicht ausgepackt hatte. Sie waren immer noch in einem aus Headington mitgebrachten Karton verstaut, den sie in der Woche vor ihrer Abreise nach Frankreich auszuräumen vergessen hatte. Vielleicht hatte sie es auch nur vor sich hergeschoben, weil sie nicht daran erinnert werden wollte, was sie zurückgelassen hatte. Obwohl es ihr ureigener Entschluss gewesen war, George zu verlassen und in ihr eigenes Haus zurückzukehren, bereute sie manchmal, dass die Beziehung zerbrochen war. Es gab nichts mehr, worauf sie sich freuen konnte, wenn sie abends gegen sechs ihr Arbeitszimmer verließ – niemand, bei dem man sich Luft machen konnte und der sich anhörte, was man im Lauf des Tages erreicht hatte.
Lass das Grübeln, ermahnte sie sich. Reue macht keinen Sinn, Kate! Die Dolbys setzen andere Prioritäten als du. Du würdest nie in ihr Schema passen. Denk immer daran , was sie den Kindern angetan haben .
Kate unterbrach ihre Arbeit und ging nach oben. Ein Blick auf die Küchenuhr sagte ihr, dass die Zeit für ihre übliche Kaffeepause längst verstrichen war. Sie würde sich also nur schnell einen Kaffee aufbrühen und sich dann um ihre Materialsammlung kümmern. Am besten, sie packte gleich alles aus und verstaute die Unterlagen in ihrem Aktenschrank. Dann musste sie nicht bei jedem Blick auf die Karteikästen an George denken.
Immer noch trug sie den Kopfhörer. Obwohl ihre Ohren unter der schützenden Schaumgummischicht allmählich warm wurden, machte sie sich nicht die Mühe, ihn zu entfernen. Vielleicht wäre es sogar ganz nett, eine sanfte CD in den Walkman zu stecken. Wie war das noch? Mozart erhöhte angeblich die Konzentration, romantische Musik hingegen sollte die Kreativität fördern. Kate verspürte keine Lust auf Romantik, die sie sicher an Dinge erinnern würde, die sie verloren
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