Bollinger und die Barbaren
seine Frau, die First Lady. Ich
musste feststellen, dass Lotte diesen Trubel genoss. Sie badete geradezu in der Begeisterung, die ihr Gatte unter den Schaurenern
ausgelöst hatte. Sie strahlte wie an einem runden Geburtstag und bekam sogar feuchte Augen.
In diesem Augenblick begriff ich, dass Pierre Brück ihr etwas bot, was ich ihr nie würde bieten können: im Mittelpunkt der
öffentlichen Aufmerksamkeit zu stehen, von allen Seiten Bewunderung |40| und Respekt zu erfahren. Und sei es auch nur für etwas, was nicht sie, sondern ihre Gatte, der Bürgermeister, zustande gebracht
hatte. Die beiden gehörten enger zusammen, als ich geglaubt hatte.
Ich konnte mir das nicht länger anschauen. Es machte mich traurig – zeigte es mir doch, wo Lotte wirklich hingehörte. Ich
war schon am Ausgang der Halle, da entstand vorn ein Gerangel. Stimmen überschlugen sich. Es wurde sehr laut. Der Ton hatte
sich schlagartig geändert, er war nicht mehr freudig und gelöst, er war hart und bedrohlich geworden. Es rumorte in der Mehrzweckhalle.
Ich drehte mich um. Dabei beobachtete ich, wie ein vierschrötiger Mann sich durch die Menge zwängte und alle, die sich ihm
in den Weg stellten, unsanft beiseite stieß.
Pierre Brück sah den Mann auf sich zukommen. Herrisch winkte er Straßer und Miller zu: Sie sollten ihm zu Hilfe kommen.
Die beiden Kollegen stürmten sofort los. Aber sie hatten einen weiten Weg zurückzulegen, quer durch die gesamte Halle. Der
dicke Alain Miller stieg über Stuhlreihen, und selbst Straßer spurtete. Doch die Polizisten konnten nicht verhindern, dass
der Alte vor ihnen Bürgermeister Brück erreichte und ihm das Mikro entriss. Seine Stimme klang über die Verstärkeranlage wie
ein Gewitter.
»Hört mir zu, Schaurener! Der Wackesberg wird nicht in deutsche Hände fallen. Nicht solange ich lebe!«
Jetzt erst erkannte ich ihn: Es war der alte Hagenau, ein Säufer, den ich schon oft mit einer Flasche Wein auf dem Marktplatz
hatte sitzen sehen.
Brücks Parteifreunde aus dem Gemeinderat packten ihn und wollten ihm das Mikro wegnehmen. Aber plötzlich standen zwei kräftige,
junge Kerle, die ebenso abgerissen aussahen wie der Alte, neben ihm und vertrieben die Honoratioren mit Faustschlägen.
Die Nase des Alten – ein Hüne von fast zwei Metern, knochig und grob wie ein Klotz – war feuerrot vom Wein, seine grauen |41| Haarstoppel standen wirr nach oben, seine Haut war faltig und wirkte ungesund. Seine Stimme klang rau und böse. Er schien
sich jeden Moment an seiner Zunge zu verschlucken.
»Ich sage euch. Ihr werdet es büßen! Dafür werde ich sorgen, das schwöre ich euch. Joseph Hagenau und seine Söhne werden nicht
hinnehmen, dass ihr den Wackesberg den Nazis überlasst!«
Jetzt hatten Miller und Straßer das Podium erreicht. Sie fackelten nicht lange. Schließlich ging es um den Bürgermeister.
Die Polizisten setzten ihre Gummiknüppel ein, die schwarzen Stöcke tanzten über den Köpfen.
Der Alte ging sofort zu Boden. Die beiden Kerle an seiner Seite – offenbar Joseph Hagenaus Söhne – wollten ihrem Vater zu
Hilfe eilen, aber Straßer stellte sich ihnen in den Weg. Vor dem alten Dorfpolizisten mit dem Schlagstock hatten sie Respekt.
Die Kampfhähne standen sich eine Weile regungslos gegenüber – von den Schaurenern ängstlich beobachtet. Doch als niemand mehr
einen Angriff wagte, entspannte sich die Situation. In der Halle kehrte Ruhe ein.
Alain half dem Alten auf und führte ihn zu seinen Söhnen, die ihn sofort unterhakten. Dann drängten Straßer und Miller die
Hagenaus zum Ausgang. Die Schaurener wichen vor ihnen zurück.
Pierre Brück hatte sich überraschend schnell wieder gefangen. »Nun, wir kennen unsere Pappenheimer und wissen, was wir von
solchen Auftritten zu halten haben. Da unser Polizeichef sich vorhin so engagiert hat, kann er jetzt gleich seines Amtes walten.«
Er wedelte mit der Linken, als müsste er mich ermutigen, näher heranzutreten. »Ich möchte vor Zeugen zu Protokoll geben, dass
der hier ansässige Joseph Hagenau, ein polizeibekanntes Subjekt, und seine vorbestraften Söhne gedroht haben, den Verkauf
des gemeindeeigenen Gebietes Wackesberg mit Gewalt zu verhindern. Nur falls was passiert. Haben Sie das verstanden, Herr Bollinger?«
Alles schaute auf mich.
»Sicher, Herr Bürgermeister.«
|42| Pierre Brück blickte mich lange schweigend an – viel zu lange. Er machte nicht den Eindruck, als wäre er sehr
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