Bollinger und die Barbaren
und uns musterten.
»Wen bringen Sie uns denn hier?«, fragte Brück etwas verärgert. Offenbar war er der Meinung, wir hätten ihn über Gebühr warten |64| lassen. »Ist das nicht das Mädchen, das sich die Hagenaus in Polen gekauft haben?«
»Die junge Frau hat uns um Hilfe gebeten«, antwortete ich.
»Soso ... Nun haben Sie ihr ja geholfen und können sich wieder um Ihre Pflichten kümmern.«
Ich wollte etwas entgegnen, aber der Bürgermeister hatte den Fremden schon am Arm gepackt und stieg mit ihm den Wackesberg
hinauf, um ihm den Vorteil der besonderen Lage auszumalen.
Lotte löste sich von der kleinen Gruppe und trat auf uns zu. Sie schaute sich die junge Polin sehr genau an. Sie musterte
unsere Begleiterin von Kopf bis Fuß. Ihr Blick hatte dabei einen seltsam taxierenden Ausdruck; sie schien einen Gegenstand
auf seinen Gebrauch hin zu prüfen, kalt und verächtlich. Das war nicht mehr die charmante, gewandte und kultivierte Bürgermeisterfrau.
Zum ersten Mal erlebte ich das Landei Lotte. Jetzt umkreiste sie das verschämte Ding in dem kurzen Kleid sogar – wie eine
Zuchtkuh auf der Landwirtschaftsausstellung.
Später habe ich gelernt, dass diese Art, Menschen zu mustern, auf dem Land nicht unüblich ist. Die Leute dort haben nicht
die Hemmungen wie die Stadtmenschen, die enger zusammenleben müssen und öfter mit Fremden konfrontiert werden als die Bewohner
von Dörfern. Auf dem Land sieht man nicht so häufig Fremde, man ist von lauter Nachbarn umgeben, die man von Kindesbeinen
an kennt. Deshalb ist ein neuer Mensch eine kleine Sensation – die man dann auch hemmungslos begafft.
»Wollen Sie mir die junge Dame nicht vorstellen?«, forderte Lotte mich auf, als sie ihre Begutachtung beendet hatte. »Das
ist doch die polnische Putzhilfe der Hagenaus, oder täusche ich mich da?«
Doch bevor ich etwas antworten konnte, rief der Bürgermeister sie zu sich.
»Nun komm schon, Lotte! Fräulein Ellinor möchte wissen, wie es mit den Einkaufsmöglichkeiten in Schauren bestellt ist.«
|65| Lotte warf mir einen bösen Blick zu und folgte dem Ruf ihres Herrn.
Ich wollte die junge Frau beruhigen, die nach Lottes Musterung noch verstörter wirkte. Doch Pierre Brück verlangte die Aufmerksamkeit
aller seiner Gefolgsleute.
»Bollinger, bitte, ich möchte Sie unserem Investor vorstellen!« Darum ging es also: Pierre Brück führte den Käufer des Wackesbergs
über das Terrain – und alle hatten dafür zu sorgen, dass es dem Investor in Schauren gefiel.
»Ich bin gleich wieder da«, erklärte ich der blonden Polin. Sie schaute mich mit großen Augen an.
»Lieber Herr Schwierz«, tönte Brück wie eine Fanfare, »das ist unser neuer Polizeichef Felix Bollinger.«
Ich musste im Laufschritt den Wackesberg hinaufeilen, um rechtzeitig zum Händedruck oben anzukommen.
»Herr Bollinger ist ein echter Gewinn. Er kommt aus Deutschland, ist ein hochdekorierter Polizeifachmann aus Saarbrücken und
leitet unsere kleine Grenzstation mit ausnahmslos französischen Kollegen. Ja, lieber Herr Schwierz, Europa beginnt hier bei
uns in der Provinz.«
Ich war etwas außer Atem, meine Handflächen schwitzten, ich rieb die Rechte an der Hose trocken, bevor ich sie dem Investor
reichte. Sein Händedruck war weich, fast ängstlich, aber der Adlerblick, mit dem er mich musterte, war durchdringend und unnachgiebig.
Ich spürte es sofort: Der erste Eindruck täuschte bei Schwierz. Wir hatten es mit einem knallharten Geschäftsmann zu tun,
der es liebte, seiner Arbeit in einer etwas clownesken Aufmachung nachzugehen.
»Mein lieber Felix, das ist Cyril Schwierz, Konzertveranstalter aus Frankfurt. Sicher haben Sie den Namen schon mal gehört.«
Sein Blick ließ es gar nicht anders zu: Ich nickte.
»Und das hier, Felix, ist die entzückende Ellinor Piepenbrock. Man glaubt es gar nicht, aber die Dame ist nicht nur eine Schönheit,
sie ist auch die künstlerische Leiterin aller Veranstaltungen von Cyril Schwierz – oder sage ich da was Falsches?«
|66| Lotte verdrehte die Augen. Sie achtete nun darauf, etwas Abstand zu ihrem Gatten zu halten. Und zum ersten Mal hatte ich das
Gefühl, dass sie meine Nähe suchte, ja, dass sie sich lieber auf meine Seite geschlagen hätte. Ich spürte, wie mir warm ums
Herz wurde. Jeder Fußbreit, den sie mir näher kam, war eine Wohltat. Der Schatten, der sich seit dem Brand über uns gelegt
hatte, verzog sich langsam.
»Ellinor ist das Herz des Unternehmens«,
Weitere Kostenlose Bücher