Bollinger und die Barbaren
gerade vor.
»Ja, auch«, antwortete sie stolz. »Aber noch mehr, weil ich endlich etwas Sinnvolles tue.«
»Wenn Lotte Brück erfährt, dass ihr Mann sie mit Ihnen betrügt, werden Sie Ihre Arbeit verlieren, Madame Chariot.«
»Wollen Sie es ihr sagen?«
»Nein. Aber ich will etwas dafür, dass ich es nicht tue.«
»Was sind Sie nur für ein gemeiner Kerl!«, zischte sie.
»Ich will Pétains Telefon«, sagte ich.
Brück kam mit wiegenden Schritten, seinen Schlüsselbund spielerisch um den Zeigefinger drehend, herein. Er stutzte einen Moment,
als er mich sah. Dann lachte er.
»Schon Feierabend?«
»Nein. Ich habe nur gehört, die Nieren wären so gut hier.«
»Es gibt bessere.« Brück setzte sich auf den Hocker neben Claire, ohne sie zu begrüßen. »Wollen Sie einen mittrinken, Bollinger?«
Ich verabschiedete mich von Madame Chariot, die es nur mit Widerwillen ertrug, dass ich ihr die Hand drückte.
|119| »Bollinger!«
Ich wandte mich noch mal um, bevor ich zu meinem Tisch zurückging. »Kümmern Sie sich um die Sache mit dem Telefon!«, sagte
Pierre Brück leise. »Lassen Sie alles andere stehen und liegen! Ich will nichts mehr hören vom Wackesberg. Bis das Telefon
wieder da ist, muss alles andere ruhen. Im Interesse der Gemeinde.«
A m nächsten Morgen traf endlich der Bericht der Gerichtsmedizin aus Metz ein. Natürlich ohne eine Erklärung dafür, dass es
so lang gedauert hatte. Ich riss das Kuvert auf, ein loser Packen Blätter flatterte auf den Fußboden. Mit zitternden Fingern
sammelte ich den Bericht auf und ordnete die Seiten auf dem Schreibtisch. Es waren vor allem Zahlenkolonnen. Laborergebnisse,
mit denen ich wenig anfangen konnte. Immerhin hatte der zuständige Gerichtsmediziner Professor Marc-Joseph Hummer eine allgemein
verständliche Zusammenfassung angehängt.
Ich kannte Hummer. Er hatte früher in Saarbrücken gearbeitet. Eigentlich stammte er aus Nancy, aber er konnte die Lothringer
nicht ausstehen. Er nannte sie »Wackese« – ein saarländisches Schimpfwort, das eigentlich einen groben, ordinären Feldstein
bezeichnet. Im Saarland hatte Marc-Joseph Hummer sich pudelwohl gefühlt. Er glaubte, in der Zivilisation angelangt zu sein.
Mit seinen Landsleuten jenseits der Grenze hatte er damals nur noch selten zu tun gehabt – wenn ein Opfer der illegalen Schnapsbrennerei
auf seinen Seziertisch kam und sie in Metz überlastet waren. Dann fluchte er über den Eigensinn und die Stumpfheit der Lothringer.
Irgendwann aber war es in Saarbrücken zu Unregelmäßigkeiten gekommen. Hummer musste gehen. Es hieß, er sei Opfer einer Intrige
von Saarländern geworden. Dabei gab es keinen eifrigeren Verfechter der saarländischen Lebensweise als ihn. Es blieb ihm nichts
anderes übrig: Da zur gleichen Zeit die Leitung der Gerichtsmedizin in Metz vakant wurde, musste er in seine Heimat zurück
– ins Herz der |120| Finsternis, wie er es nannte, als ich ihn zufällig einmal an einer Tankstelle in Forbach traf. Es ging ihm wohl nicht sehr
gut. Er zählte die Monate bis zu seiner Pensionierung, dann wollte er sich im saarländischen Bliesgau ein Häuschen mit Weiher
kaufen und Forellen züchten. Ausgerechnet Marc-Joseph Hummer, der seinen Beruf so liebte.
Bei der Leiche vom Wackesberg handelte es sich nach dem Urteil der Metzer Gerichtsmedizin um einen etwa 80-jährigen Mann.
Er hatte einen Kopfschuss erlitten – allerdings war er nicht daran gestorben. Die Todesursache war die Strangulation. Eine
weitere Irritation: Das Projektil stammte aus einer Pistole, die längst nicht mehr gebräuchlich war, eine Walther PPK 6,35
mm Browning aus dem Zweiten Weltkrieg.
Marc-Joseph Hummer merkte an, dass der Schusskanal eigenartig verengt und vernarbt war, das Eintrittsloch in den Schädel wies
Unregelmäßigkeiten auf, die damit zu tun haben konnten, dass der Strick die Kopfhaut an der Stelle erheblich verletzt hatte.
Die Vernarbung deutete darauf hin, dass die Kugel schon länger im Kopf gesteckt haben könnte, die Schussverletzung also von
früher herrührte. Es sei auszuschließen, dass sie den Tod herbeigeführt haben könnte. Der Fall schien verzwickter zu sein
als erwartet. Was die Identität des Mannes anging, so bot die Obduktion nur wenig Anhaltspunkte – außer dass der Tote einen
angeborenen Gehfehler gehabt hatte, sein rechtes Bein war steif und ein Stück kürzer als das linke.
»Immerhin, das ist doch schon mal ein Hinweis«, sagte ich,
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