Bollinger und die Barbaren
während Straßer mit zusammengekniffenen Augen den Bericht überflog.
»Wir könnten die Anhaltspunkte an alle lothringischen und saarländischen Dienststellen schicken. Vielleicht fällt irgendeinem
Kollegen ja eine Ähnlichkeit zu jemandem auf. Obwohl – das wäre die Stecknadel im Heuhaufen ...«
»Der Humpel-Jean«, sagte Straßer.
Alain Miller gähnte. Ihn interessierte die Schreibtischarbeit, das tägliche Brot des Kriminalisten, weniger als aufwändige
Sicherungsaktivitäten im öffentlichen Raum.
|121| »Wer?«
»Du kannst ihn nicht kennen, Alain, du bist noch zu jung. Der Humpel-Jean war einer aus dem Dorf. Ein Schaurener. Sein rechtes
Bein war kürzer als das linke, deshalb zog er es hinter sich her.«
Ich sprang auf. »Mann, Straßer, warum sagen Sie das jetzt erst?«
»Aber, patron – der Humpel-Jean, das war ein Original. So eine Art Dorfdepp. Wir Kinder aus dem Dorf sind immer hinter ihm hergerannt und
haben ihn mit faulem Obst beworfen, wenn er im Herbst runter nach Schauren kam. Im Spätsommer streifte er meistens oben durch
die Ardennen und hat bei den Winzern im Elsass gearbeitet.«
Ich rechnete nach. Wenn dieser Humpel-Jean etwa 25 war, als Straßer noch ein kleiner Junge war, dann mochte er heute um die
achtzig sein. Das kam hin.
»Kindern kommt ein Dreißigjähriger – vor allem wenn er etwas vierschrötig wirkt – wie ein uralter Mann vor«, erklärte ich
meinen Kollegen.
»Vierschrötig!«, sagte Louis »Das ist genau das richtige Wort. Der Humpel-Jean war vierschrötig, das kann man wohl sagen.«
Er lachte schallend und schlug sich auf die Oberschenkel. »Einmal hat er beim Schafscheren geholfen. Dabei hat er sich breitbeinig
über die Schafe gestellt. Die Lausbuben haben einen Kracher in den Pferch geworfen, die Böcke sind wild geworden und der,
den der Humpel-Jean gerade geschert hat, ist vor Schreck aufgesprungen, und der Jean ist auf ihm geritten wie ein Cowboy beim
Rodeo.« Louis lachte herzhaft, bis er meinen ernsten Gesichtsausdruck sah. »Ich weiß das alles ja nur vom Hörensagen. Ich
war noch viel zu klein, als das geschehen ist, Anfang der vierziger Jahre. Als die Deutschen in Schauren waren.«
»Louis, ich muss mich schon sehr wundern. Warum haben Sie nicht gleich gesagt, dass der Tote vom Wackesberg mit diesem Mann
identisch sein könnte?«
|122| Straßer sah mich mit offenem Mund an. »Aber wie kommen Sie denn auf so was, patron? Der Humpel-Jean, der ist doch schon lange tot. Die boches ... ich meine, die Deutschen haben ihn erschossen. Ganz Schauren war Zeuge. 1944 oder Anfang ’45. Die SS hat ihn gejagt. Da,
wo die beiden Waldwege im Forêt de Schauren zusammenstoßen, da haben sie ihn gestellt. Die Schüsse waren bis auf den Marktplatz
zu hören. Schlimme Sache war das damals.«
Alles fiel in sich zusammen. Wie so oft. Das war die Schaurener Krankheit: viele Worte, viel Getöse, und dann stellte sich
heraus: Es war wieder nix.
»Tja«, seufzte der dicke Alain Miller und feilte sich mit einer winzigen Feile, die er zusammen mit anderen Miniaturwerkzeugen
an einer Kette am Gürtel trug, seine Fingernägel. »Die alten Geschichten. Der Krieg. Die Deutschen.«
Mit diesen Mitarbeitern kam ich nicht weiter. Nicht in einem derart komplizierten Fall. Ich wollte mich in mein Zimmer verkriechen.
»Obwohl ...«, sagte Straßer bedeutungsvoll, als ich schon in der Tür war, »eines ist komisch ...«
Miller spreizte die Finger und begutachtete seine Nägel. Er gähnte schon wieder.
»Was denn, Louis?«
»Die Leiche – die vom Humpel-Jean – die wurde nie gefunden. Die Deutschen haben damals tagelang den Forêt de Schauren abgesucht.
Sogar mit Schäferhunden. Der SS-Offizier, der die Aktion geleitet hat, saß jeden Abend im Gasthaus, trank Unmengen eau de vie und schlug dabei immer mit der Faust auf den Tisch. Dabei sagte er: ›Da ist niemand lebend rausgekommen. Niemand. Auch dieser
französische Bastard nicht.‹« Straßer sann seinen eigenen Worten nach. Dann seufzte er. »Wenn die Deutschen etwas verstanden,
dann das. Oder?«
Ich blieb ihm die Antwort schuldig.
»Alle paar Jahre will jemand den Humpel-Jean gesehen haben. Meistens irgendwo in den Wäldern ... oben in den Vogesen. Da, |123| wo niemand hinkommt. Auch die Deutschen sind da nicht hingegangen. Weil es da Wölfe gibt. Auch heute noch.«
Alain Miller nickte schwer. »Meine Mutter hat mir als Kind oft von einem Mann erzählt, der humpelt und die Deutschen
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