Bone 01 - Die Kuppel
vorgestellt, wie die Panzerrücken ihn in einen dunklen Raum trieben, wo er nur die scharrenden Füße ihrer Jungen hörte. Er erschauderte und bemühte sich, keine Schande über sich zu bringen.
Doch jetzt konnte er bereits einen Umriss erkennen. Ihren Umriss. Es war eine Frau, wie er sie noch nie gesehen hatte, mit absolut makelloser Haut. Sie starrte zu ihm hinauf, und er bemerkte den Schrecken in ihren Augen. Sein erster Gedanke war: Diese Furcht haben wir gemeinsam. Das beruhigte ihn. Sein zweiter Gedanke war die Frage, warum der Häuptling sie nicht als weitere Ehefrau beansprucht hatte. Welcher Mann konnte der Verlockung solcher Vollkommenheit widerstehen? Sein Blick musterte ihre Brüste, und er sah, wie sie daraufhin die dunklen Augen leicht zusammenkniff. Dann schrie sie ihn an, völlig bedeutungslose Laute, die wütend und hasserfüllt klangen.
Endlich begriff er. »Der Häuptling will dich nicht, weil du dumm bist«, sagte er. »Du sollst beim nächsten Handel als Freiwillige dienen …«
Sein Blick verweilte an der Rundung ihrer Hüften. »Welche Verschwendung«, flüsterte er.
Er streckte eine Hand aus, um ihre Haut zu berühren, worauf sie ihn wieder anschrie. Sie versuchte tatsächlich, ihn zu beißen.
»Aber du bist vom Himmel gekommen«, sagte Wandbrecher. »Ich habe es gesehen! Du warst in einer Sphäre. Du kannst keine Idiotin sein, oder?«
Ihre Anstrengungen ließen ihre Haut glänzen, wie es bei ihm war, wenn er aus einem schrecklichen Traum erwachte. Wandbrecher fühlte sich erregt, und für einen kurzen Moment vergaß er sogar jeden Gedanken an seinen Bruder. Dann ging er hinaus zum Häuptling.
»Eindeutig menschlich«, sagte er.
»Aber geistig behindert«, sagte Speerauge. »Wir müssen ihr Fleisch tauschen.«
»Ja«, sagte Wandbrecher. »Oder ich … vielleicht könnte ich sie zur Frau nehmen. Da sie keine Familie hat, müsste ich dir als Häuptling den Brautpreis zahlen.«
Speerauge schnaufte verächtlich. »Kein Jäger kann es sich leisten, eine Idiotin zur Frau zu nehmen! Sie wird dir Kinder gebären, die noch viel schlimmer sind! Außerdem kannst du niemals so schnell einen neuen Brautpreis zusammenbekommen!«
Wandbrecher sah jedoch den berechnenden Blick seiner Augen und lächelte. »Du hast noch gar nicht gefragt, wie mein Jagdzug verlaufen ist, Häuptling.«
Heißes Fieber tobte in Stolperzunges Körper. Manchmal kamen Leute, um ihn zu sehen. Steingesicht brachte ein Fleischgeschenk mit. Er sprach einen halben Tag lang mit Stolperzunge, aber der jüngere Mann verstand kaum ein Wort. Bei einer anderen Gelegenheit hörte er, wie sich seine Mutter im Nebenraum mit Speerauge unterhielt.
»Gib es auf, Flammenhaar. Du weißt, dass seine Beine nie richtig heilen werden.«
»Das weißt du nicht, Speerauge. Mein Junge hat eine Chance verdient.«
Das Zimmer verschwamm vor Stolperzunges Augen. Die Trophäen seiner Jugendzeit starrten ihm von den Wänden entgegen, der Schädel seiner ersten Beute – als Wandbrecher ihm gestattet hatte, einem verletzten Zartling den Rest zu geben – neben den Knochen des letzten Opfers seines Vaters. Zeitweise schien es, als würde Speerauges Stimme von den einen und die seiner Mutter von den anderen sterblichen Überresten kommen.
»Ich sage nur, dass du auf das Schlimmste gefasst sein solltest«, erwiderte der Häuptling. »Wenn er nicht wieder gesund wird, ist das Fleisch, das er isst, verschwendet. Andere brauchen es.«
»Wandbrecher schafft genug Fleisch für uns alle heran.«
»Da muss ich dir recht geben«, sagte Speerauge. »Sein Trick, mit dem er die Bluthäute überlistet hat, klappt auch bei anderen Völkern … Aber die gleichen Bestien werden sich nie ein zweites Mal überrumpeln lassen. Dann wird er genauso wie jeder andere jagen müssen.«
Den Rest des Gesprächs bekam Stolperzunge nicht mehr mit, aber danach weinte seine Mutter.
Jeden Tag erhielt er Besuch von einer seltsamen Frau.
»Moosherz?«, fragte er.
Er sah nie, wie sie kam oder ging, und wenn sie sprach, konnte sein fiebernder Geist ihre Worte nicht behalten. Die Krankheit setzte ihm Tag und Nacht zu, aber sie war immer in der Nähe, um ihm einen feuchten Felllappen auf die Stirn zu drücken oder ihm tröstendes Kauderwelsch zuzuflüstern.
»Ich bin kein Baby«, sagte er zu ihr. Zumindest glaubte er, dass er es sagte.
Dann wachte er eines Tages auf, und der Nebel in seinem Kopf war verschwunden. Er sah die Frau in einer Ecke des Zimmers sitzen und erkannte, dass
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