Bone 01 - Die Kuppel
Stolperzunge am Leben geblieben wäre, hätte er gut und gerne die Hälfte eines Brautpreises als Anteil bekommen. Aber jetzt steht dieser Anteil natürlich dir zu. Und falls du dir noch eine Frau nehmen möchtest, gäbe es kaum eine bessere als Hellzahn. Sie …«
Wandbrecher schrie auf und packte Stillsitzer im Nacken. »Mein Bruder ist nicht tot! Hast du mich verstanden?« Er hob die Faust, aber die anderen zogen ihn zurück, und der älteste Jäger der Gruppe, Runzelstirn, sprach die Worte aus, von denen alle wussten, dass sie die Wahrheit waren.
»Beruhige dich, Wandbrecher! Stolperzunge war heute ein Held.« Die anderen brummten ihre Zustimmung. »Aber wir alle haben seine Beine gesehen, die nie mehr gesund werden. Du musst ihm helfen, das Richtige zu tun und die Ehre deiner Familie zu wahren. Bring keine Schande über sein bevorstehendes Opfer.«
Wandbrecher sagte nichts dazu. Als sie ihn losließen, nahm er sein Messer und machte mit dem Schlachten weiter, ohne seine Gefährten anzusehen.
Später baute Runzelstirn einen Schlitten aus Ästen. Damit zogen die Männer die Unmengen an Fleisch über den Feuchtpfad. Im Wasser tauchten Schatten auf, die neidisch emporblickten.
Die Rückkehr einer so außerordentlich erfolgreichen Jagdgruppe hätte viel mehr Aufmerksamkeit vonseiten des Stammes erregen sollen, vor allem, da Steingesicht vorausgegangen war, um ihren Triumph anzukündigen. Doch selbst die Wächter auf den Türmen sahen sie nicht, weil sie in die falsche Richtung blickten.
»Ein großes weißes Ding ist auf dem Platz heruntergekommen!« , rief einer, ein grauhaariger Mann, der fast schon alt genug war, um zu den nächsten Freiwilligen zu gehören. »Kommt zurück und berichtet uns, wenn ihr herausgefunden habt, was es ist!« Niemand hatte auch nur ein Wort des Beileids für Stolperzunge übrig, obwohl Wandbrecher an kaum etwas anderes denken konnte.
Die ersten Straßen waren leer. Nicht einmal Kinder liefen neben ihnen her, um Häppchen oder Trophäen zu ergattern. Sie hörten aufgeregte Rufe vom Mittelplatz, und als sie näher kamen, wurde ihnen der Weg durch eine große Menschenmenge versperrt.
Einen Tag früher, als sein Bruder noch gesund und zufrieden gewesen war, hätte Wandbrecher alles gegeben, um das geheimnisvolle Wesen aus nächster Nähe untersuchen zu können. Doch stattdessen rasten seine Gedanken auf der Suche nach einer Möglichkeit, wie er seinen Bruder am Leben erhalten konnte. Er wollte das Schreckliche ungeschehen machen, weil er, Wandbrecher, zu feige gewesen war, an vorderster Front zu kämpfen. Er war erleichtert gewesen, als Stolperzunge sich für diese Aufgabe angeboten hatte. Und nun würde sich der arme Junge für etwas ganz anderes freiwillig melden müssen, für etwas Endgültiges.
In der Menge kam die kleine Gruppe nicht weiter. Der Lärm und die Gerüche der Leute machten Wandbrecher schwindlig. Sie waren sein Volk, seine Freunde. Sie waren sein Stamm. Aber Stolperzunges Beine… Die Übelkeit drohte ihn schändlich auf die Knie zu werfen. Er wollte versuchen, das Haus seiner Mutter durch eine der Nebenstraßen zu erreichen, wurde dann aber durch die Ankunft von Knochenhammer aufgehalten, dem jüngsten Sohn von Häuptling Speerauge.
»Vater braucht dich – ich meine, der Häuptling. Sofort, sagt er.«
Wandbrecher war zu müde, um zu widersprechen. Außerdem wusste er, dass seine Familie die Gunst des Häuptlings brauchte, wenn er nicht wollte, dass Stolperzunge zum Freiwilligen wurde. Also ließ er sich vom Jungen durch die Menge zu einem baufälligen Lagerhaus in der Nähe des Mittelplatzes führen, wo verwirrte Jäger die Neugierigen zurückhielten. Das Große Dach sonderte bereits das erste schwache Dämmerungslicht ab, in dem die frischen Verletzungen und die blauen Augen sichtbar wurden, die viele der Wächter aufwiesen. Auch der Häuptling hatte sich ein paar blaue Flecke zugezogen. Wandbrecher sah ihn, wie er zornig vor dem Lagerhaus auf und ab humpelte.
»Endlich!«, rief Speerauge. Die Jagd schien ihn überhaupt nicht zu interessieren. »Du musst dir unbedingt dieses… dieses Wesen ansehen. Ich muss wissen, was du mir dazu sagen kannst.«
Wandbrecher konnte an nichts anderes als seinen Bruder denken, aber er trat trotzdem in die Dunkelheit zwischen den aufgehängten Fleischstücken. Er konnte den Atem des Wesens hören, während sich seine Augen noch an die Lichtverhältnisse anpassten. So war es immer in seinen Alpträumen gewesen: Er hatte sich
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