Bone 01 - Die Kuppel
ihn vermutlich erwartete: sein Bruder und seine Geliebte eng umschlungen auf dem Boden. Er würde gehen, sobald er das sah, denn er wollte sich nicht zusätzlich in Indranis Augen erniedrigen, indem er sich erwischen ließ. Ganz gleich, was sich in diesem Raum befand, er würde keinen Ton von sich geben, schwor er sich. Wenn er zu Hause war, konnte er so viel schreien, wie er wollte.
Vorsichtig , dachte er, vorsichtig…
Dann erinnerte er sich an den Speerschaft auf dem Fenstersims und suchte erneut nach Fallen. Zu seinem Erstaunen fand er tatsächlich eine Sehnenschnur, die in Fußknöchelhöhe quer durch den Türrahmen gespannt war. Nichts, was tödlich wäre. Aber im eigenen Haus! Eine zweite Schnur war in Halshöhe angebracht. Stolperzunge duckte sich hindurch, als er den Vorhang zur Seite schob.
Hier waren wieder Atemzüge zu hören, aber nur von einer Person. Es war ein heiseres, angestrengtes Rasseln. Ohne Feuer und bei verschlossenem Fenster musste er auf Knien zu den Atemgeräuschen kriechen. In der Dunkelheit fanden seine Finger die feuchte Handfläche eines anderen Menschen. Doch die Person reagierte nicht auf seine Berührung.
»Indrani?«, flüsterte er. »Indrani?« Als er die Schulter der Schlafenden rüttelte, wachte sie nicht auf. Ihre Haut fühlte sich glühend heiß an, und alle paar Sekunden zuckte ihr Körper. Das erinnerte ihn an etwas. Aber woran? Dann fiel es ihm wieder ein. In seiner Erinnerung sah er das Dach, auf dem er und Steingesicht den Sprecher geholt hatten. Er sah die sterbenden Flieger mit ihren starren Augen und den zitternden Flügeln.
So hatte Wandbrecher also dafür gesorgt, dass sie zu Hause blieb. Stolperzunge hätte am liebsten laut geschrien und sich die Fingernägel an den Wänden blutig gekratzt. Das ist falsch , dachte er. Wandbrecher durfte so etwas nicht tun. Niemand durfte es. Indrani war wie ein Kind und kannte sich nicht einmal mit den einfachsten Dingen aus. Und genauso wie ein Kind hatte sie vielleicht vergessen, die Mooswesen von ihrem Essen zu wischen, wenn welche darauf herumgekrochen wären.
Andererseits musste man mehrere Hände voll davon essen, damit so etwas geschah.
Er hob die Frau auf seine Schulter. Sie fühlte sich viel zu leicht an. Vielleicht war es doch gar nicht Indrani. Indrani hatte kräftige Muskeln gehabt. Er ging zur Tür und riss den Vorhang zur Seite. Dann hätte er seine Last beinahe fallen lassen. Moosherz stand im Durchgang und blickte ihn an. Schatten verhüllten den größten Teil ihres Gesichts, wodurch es wie ein Totenschädel aussah.
»Gut, Stolperzunge«, sagte sie. »Ich dachte schon, du würdest nie kommen! Und das in einer Nacht, in der Wandbrecher fortgegangen ist, um mit den Krallenleuten ein Bündnis auszuhandeln. Gut!«
Sie zeigte mit zitternder Hand auf den Körper, der auf Stolperzunges Schulter lag. »Sie zerstört meinen Ehemann.« Ihre Stimme war beinahe ein Kreischen, und Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Er hatte nie so große Angst gehabt, bevor sie in unser Haus kam.« Stolperzunge verzichtete darauf, sie zu berichtigen. Er schob sich an ihr vorbei zum Haupteingang.
Moosherz folgte ihm. »Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt, Stolperzunge. Du bist kräftiger geworden, mehr ein Mann als ein Junge.« Sie zuckte mit den Schultern, als wollte sie sagen: Die Vergangenheit ist vorbei . »Wenn Wandbrecher erfährt, dass sie dich verhext hat, wird er euch beide als Freiwillige auswählen müssen.« Lächelte sie? »Ich glaube, danach… wird er wieder schlafen können.«
Stolperzunge verließ das Haus durch den Haupteingang. Es war ihm gleichgültig, ob irgendwer wach war und ihn dabei sah. Er war überzeugt, dass Indrani im Sterben lag. Also kam es ihm in diesem Moment gar nicht so wichtig vor, dass auch er so gut wie tot war – kaum mehr als Fleisch auf zwei Beinen, das mit den Krallenleuten getauscht werden sollte.
DIE LANGZUNGE
Auf dem Mittelplatz waren die Räucherfeuer zu glühender Asche heruntergebrannt. Er nahm Indrani von der Schulter, um sie sich genauer ansehen zu können. Sie blinzelte träge mit schweren Augenlidern und reagierte nicht auf ihren Namen, als er sie leise ansprach. Ihr Kinn war mit weißen Schaumflecken besprenkelt, die im schwachen Licht der Feuer der Vorfahren am Dach glitzerten.
Er wusste nicht, was er tun sollte. Er war nur zu Wandbrechers Haus gegangen, um sie zu sehen, um mit ihr zu reden und ihre Verachtung über sich ergehen zu lassen. Doch als er sie jetzt ansah,
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