Boomerang
so etwas wie ein heimeliges Gefühl aufkommen. Da sich alle an die Regeln halten und alle davon ausgehen, dass sich alle anderen auch an die Regeln halten, bewegt sich der Stau so schnell, wie es unter diesen Umständen eben möglich ist. Die hübsche junge Frau am Steuer meines Mietwagens ist trotzdem nicht zufrieden. Charlotte stöhnt angesichts der Bremslichter, die sich bis zum Horizont erstrecken. »Ich hasse Staus«, erklärt sie entschuldigend. Dann zieht sie die deutsche Ausgabe von Alan Dundes’ Buch aus ihrer Tasche; in der Übersetzung trägt es den Titel
Sie mich auch
. Charlotte erklärt mir, was das bedeutet, und meint »Das versteht jeder. Aber was der Autor so von sich gibt … Ich weiß ja nicht …«
Als ich mich das letzte Mal längere Zeit in Deutschland aufhielt, war ich siebzehn Jahre alt. Damals reiste ich mit zwei Freunden, einem Fahrrad, einem Taschenwörterbuch und einem deutschen Liebeslied, das mir eine deutschstämmige Amerikanerin beigebracht hatte. Damals sprachen in Deutschland |177| so wenige Menschen Englisch, dass es oft besser war, unsere bescheidenen Deutschkenntnisse zu bemühen – also das Liebeslied. Deswegen war ich davon ausgegangen, dass ich auf meiner Reise eine Dolmetscherin benötigen würde. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Deutschen inzwischen ihr Englisch aufpoliert hatten. In den letzten Jahrzehnten scheint die gesamte Bevölkerung ein Berlitz-Sprachbad genommen zu haben. In der Finanzwelt ist natürlich auch in Deutschland die Verkehrssprache Englisch. Auch in der EZB wird Englisch gesprochen, obwohl die Zentralbank ihren Sitz in Frankfurt hat und Irland das einzige Mitgliedsland ist, in dem halbwegs Englisch gesprochen wird.
Wie dem auch sei, über den Bekannten eines Bekannten hatte ich Charlotte engagiert, eine herzliche und intelligente Frau Mitte zwanzig, die nebenbei reichlich abgebrüht zu sein schien – wie viele herzliche junge Frauen können »Leck mich« sagen, ohne zu erröten? Charlotte spricht sieben Sprachen, darunter Chinesisch und Polnisch, und schrieb gerade ihre Magisterarbeit über interkulturelle Missverständnisse – die kommende Wachstumsbranche der Europäer. Als mir klar wurde, dass ich keine Dolmetscherin benötigte, hatte ich sie bereits verpflichtet. Also fuhr sie meinen Mietwagen. Schon als meine Dolmetscherin wäre sie hoffnungslos überqualifiziert gewesen, aber mich von ihr durch die Gegend kutschieren zu lassen war schlicht absurd. Doch sie machte den Job gerne und hatte sogar eine deutsche Übersetzung von Dundes’ Büchlein aufgespürt.
Aber was Dundes über Deutschland zu sagen hat, gefällt ihr nicht. Sie glaubt nicht einmal an die Existenz eines deutschen Nationalcharakters. »In meinem Fach glaubt niemand mehr an so was«, sagt sie. »Wie wollen Sie denn 80 Millionen Menschen |178| über einen Kamm scheren? Warum sollten die alle gleich sein? Wenn die Deutschen angeblich anal fixiert sind, würde ich fragen, woher das kommen soll? Wie hätte sich das verbreitet?« Dundes unternahm sogar einen Versuch, diese Frage zu beantworten. Er mutmaßte, es könne an Wickeltechniken deutscher Mütter liegen, die angeblich ihre Kinder lange Zeit in ihrem eigenen Mist gären ließen. Charlotte nahm ihm das nicht ab. »Das habe ich noch nie gehört!«, ruft sie aus.
Auf einmal sieht sie etwas und strahlt. »Schauen Sie mal! Eine deutsche Fahne!« Und tatsächlich, über einem kleinen Haus in einem fernen Dorf weht eine schwarz-rot-goldene Flagge. Man kann tagelang durch Deutschland fahren, ohne eine einzige Fahne zu sehen. »Patriotismus ist hier immer noch tabu«, meint Charlotte. »Es ist immer noch politisch unkorrekt zu sagen: ›Ich bin stolz, Deutscher zu sein.‹«
Plötzlich löst sich der Stau auf und wir fliegen weiter Richtung Düsseldorf. Die Autobahn scheint neu zu sein, und Charlotte tritt aufs Gas, bis die Nadel 210 anzeigt.
»Das ist eine gute Straße«, sage ich.
»Die haben die Nazis gebaut«, antwortet sie. »Das sagen die Leute über Hitler, wenn sie keine Lust mehr auf das Übliche haben: ›Wenigstens hat er gute Autobahnen gebaut.‹«
***
Im Februar 2004 schrieb der Londoner Finanzjournalist Nicholas Dunbar einen Bericht über ein Gruppe von Bankern der Düsseldorfer IKB Deutsche Industriebank, die offenbar Großes vorhatten. »In den Gesprächen der Händler in der City war immer öfter der Name IKB zu hören«, berichtet Dunbar. »Sie waren so etwas wie der heimliche Goldesel für alle.« Etwa
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