Boris Pasternak
Müdigkeit durch die vielen Jahrhunderte. Ich
mag es nicht, wie sie sich ironisch selber Mut machen, ich mag nicht die
alltägliche Dürftigkeit ihrer Begriffe, ihrer mutlosen Phantasie. Das reizt
mich ebenso wie die Gespräche von Alten über das Alter, von Kranken über die
Krankheit. Stimmen Sie mir zu?«
»Ich habe
noch nicht darüber nachgedacht. Aber ein Kamerad von mir, ein gewisser Gordon,
ist derselben Meinung.«
»Ich bin
also hingegangen, um Pawluscha abzupassen, ich wollte ihn sehen. In dem Gebäude
war früher die Kanzlei des Generalgouverneurs. Jetzt hängt an der Tür ein
Schild: Büro für Anträge. Vielleicht haben Sie es gesehen? Es ist der schönste
Fleck der Stadt. Der Platz vor der Tür ist holzgepflastert. Gegenüber liegt der
Stadtpark. Ahorn, Weißdorn, Schneeballsträucher. Ich trat zu dem Häuflein der
Bittsteller und wartete. Natürlich habe ich mich nicht vorgedrängt, nicht
gesagt, daß ich seine Frau bin. Wir haben ja verschiedene Namen. Was sollte
hier auch die Stimme des Herzens? Bei denen gelten ja ganz andere Regeln. Zum
Beispiel sein Vater, Pawel Ferapontowitsch Antipow, Arbeiter und früher aus
politischen Gründen deportiert, der ist hier irgendwo bei Gericht tätig, an
seinem früheren Verbannungsort. Und sein Freund Tiwersin. Beide sind Mitglieder
des Revolutionstribunals. Und was meinen Sie? Der Sohn hat sich dem Vater auch
nicht entdeckt, und der findet das selbstverständlich und nimmt es nicht übel.
Wenn der Sohn sich tarnt, muß es so sein. Das sind Steine, keine Menschen.
Prinzipien, Disziplin.
Und
schließlich, selbst wenn ich gesagt hätte, daß ich seine Frau bin, na und?
Haben die Sinn für die Ehefrauen? Ist das die Zeit dafür? Weltproletariat,
Umgestaltung des Alls, das ist was anderes, das ja. Aber ein zweibeiniges Wesen
wie eine Ehefrau ist bei denen, pfui, so etwas wie ein Floh oder eine Laus.
Ein
Adjutant kam heraus und fragte die Leute. Einige ließ er hinein. Ich sagte ihm
nicht meinen Namen, und als er nach meinem Anliegen fragte, antwortete ich ihm,
es sei persönlich. Ich hätte mir vorher sagen können, daß das keinen Zweck
hatte. Der Adjutant zuckte die Achseln und sah mich mißtrauisch an. So konnte
ich meinen Mann kein einziges Mal sehen.
Und wenn
Sie nun meinen, er verabscheut uns, liebt uns nicht mehr, denkt nicht mehr an
uns - im Gegenteil! Ich kenne ihn! Aus einem Übermaß an Gefühl hat er sich
etwas Besonderes ausgedacht! Er will uns seinen ganzen Kriegslorbeer zu Füßen
legen, er will nicht mit leeren Händen zurückkommen, sondern als ruhmreicher
Sieger! Er will uns unsterblich machen, er will uns blenden! Wie ein Kind!«
Wieder kam
Katenka ins Zimmer. Lara Antipowa nahm das verständnislose Mädchen in die Arme,
wiegte es, kitzelte und küßte es und erstickte es fast in ihren Armen.
Juri
Shiwago ritt von der Stadt nach Warykino. Da er diese Strecke schon oft
zurückgelegt hatte und sie kannte, nahm er sie nicht mehr wahr.
Er näherte
sich der Stelle im Wald, wo von dem geraden Weg nach Warykino ein Seitenweg zu
der Fischersiedlung Wassiljewskoje an der Sakma führte. An dieser Stelle stand
auch ein Pfahl mit einer Reklametafel für landwirtschaftliche Maschinen. An
dieser Weggabelung erlebte der Arzt gewöhnlich den Sonnenuntergang. Auch jetzt
wurde es Abend.
Mehr als
zwei Monate waren vergangen, seit er von einem seiner Ritte in die Stadt abends
nicht nach Hause zurückgekehrt, sondern bei Lara Antipowa geblieben war. Zu
Hause hatte er gesagt, er wäre in der Stadt aufgehalten worden und hätte in
Samdewjatows Ausspannhof übernachtet. Seit langem war er mit Lara Antipowa per
»du« und nannte sie Lara, während sie ihn mit Shiwago anredete. Der Arzt betrog
Tonja und verschwieg ihr die Sache, die immer ernsthafter und unzulässiger
wurde. Das war noch nie vorgekommen.
Er
vergötterte Tonja. Ihre Seelenwelt, ihre innere Ruhe waren ihm teurer als alles
auf der Welt. Wie ein Berg stand er für ihre Ehre, mehr noch als ihr Vater und
sie selbst. Um sie vor verletztem Stolz zu schützen, würde er jeden Beleidiger
mit eigenen Händen zerfleischt haben. Nun war er selbst zum Beleidiger
geworden.
Zu Hause,
im Familienkreis, fühlte er sich wie ein nicht entlarvter Verbrecher. Die
Ahnungslosigkeit seiner Hausgenossen, ihre gewohnte Freundlichkeit brachten ihn
um. Wenn ihm mitten im Gespräch plötzlich seine Schuld einfiel, erstarrte er,
hörte und begriff nichts mehr.
Wenn das
bei Tisch geschah, blieb ihm der Bissen im Halse
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