Boris Pasternak
stecken, dann legte er den
Löffel hin und schob den Teller von sich. Tränen würgten ihn. »Was hast du?«
fragte Tonja verständnislos. »Hast du in der Stadt etwas Schlimmes erfahren?
Ist jemand eingesperrt worden? Oder erschossen? Sage es mir. Fürchte nicht,
mich zu verstimmen. Es ist dann leichter für dich.«
Verriet er
Tonja, indem er ihr eine andere vorzog? Nein, er hatte nicht nach einer anderen
Frau gesucht, er zog keine Vergleiche. Die Ideen der »freien Liebe«, Wörter wie
»die Rechte und Ansprüche des Gefühls« waren ihm fremd. Über so etwas zu reden
und nachzudenken empfand er als abgeschmackt. Er pflückte nicht die »Blumen
des Vergnügens«, er zählte sich nicht zu den Halbgöttern und Übermenschen, er
beanspruchte keine besonderen Vorrechte und Privilegien. Unter dem Druck des
schlechten Gewissens fühlte er sich erschöpft.
Wie soll
es weitergehen? fragte er sich manchmal, und er fand keine Antwort, er hoffte
auf ein Wunder, auf irgendwelche unvorhergesehenen Umstände, die eine Lösung
brächten.
Aber die
blieben aus. Er beschloß, den Knoten mit Gewalt durchzuhauen. Sein Entschluß
stand fest. Er wollte Tonja alles erzählen, sie um Verzeihung bitten und Lara
nie wieder sehen.
Das war
freilich nicht leicht. Es schien ihm auch jetzt noch nicht ganz klar, daß er
für immer, für alle Zeiten mit Lara gebrochen hatte. Heute früh hatte er ihr
gesagt, daß er Tonja alles beichten wolle und daß sie sich nicht mehr sehen
dürften, aber nun hatte er das Gefühl, es ihr nicht entschlossen genug gesagt
zu haben.
Lara
wollte ihn nicht mit unangenehmen Szenen belasten. Sie begriff, daß er sich
ohnehin schon quälte. Darum gab sie sich Mühe, möglichst gelassen zu bleiben.
Ihr Gespräch fand in dem unbewohnten Zimmer der früheren Wohnungsmieter statt,
dessen Fenster in die Kupetscheskaja blickten. Über Laras Wangen liefen Tränen,
die sie ebenso wenig wahrnahm wie die steinernen Figuren gegenüber, die
Regentropfen, die ihnen über die Gesichter rannen. Aufrichtig, ohne gespielte
Großmut, sagte sie leise: »Handle so, wie es für dich am besten ist, nimm auf
mich keine Rücksicht. Ich werde es überstehen.« Sie wußte nicht, daß sie
weinte, und sie wischte die Tränen nicht weg.
Bei dem
Gedanken, Lara könnte ihn falsch verstanden haben, und er habe sie vielleicht
mit irrigen, falschen Hoffnungen zurückgelassen, war er drauf und dran,
umzukehren und wieder in die Stadt zu reiten, um das Ungesagte auszusprechen
und sich vor allem noch viel heißer und zärtlicher zu verabschieden, wie es
sich bei einer Trennung fürs ganze Leben gehörte. Nur mühsam bezwang er sich
und setzte seinen Weg fort.
Je tiefer
die Sonne sank, desto mehr füllte sich der Wald mit Kälte und Dunkelheit. Es
roch nach feuchtem Laub wie nach den Bunden erhitzter Birkenzweige im Vorraum
des Dampfbads. In der Luft hingen wie Korkschwimmer im Wasser unbewegliche Mückenschwärme,
von denen ein sirrendes Unisono ausging. Der Arzt schlug sich immer wieder auf
Stirn und Hals, und das Klatschen seiner Hand gegen den schweißigen Körper
paßte überraschend gut zu den anderen Geräuschen beim Reiten: dem Knarren der
Sattelriemen, den schweren Huftritten in dem schmatzenden Schlamm' und den
trocken knallenden Salven aus dem Gedärm des Pferdes. Plötzlich schlug fern in
der Richtung des Sonnenuntergangs eine Nachtigall.
Wach auf!
Wach auf! rief sie eindringlich, und es klang beinahe wie vor Ostern: Meine
Seele, meine Seele, stehe auf und schlafe nicht!
Da kam
Shiwago ein einfacher Gedanke wie eine Erleuchtung. Wozu die Eile? Er würde
nicht das Wort brechen, das er sich selbst gegeben hatte. Die Selbstentlarvung
würde stattfinden. Aber wer sagte denn, daß das noch heute sein müsse? Noch
hatte er Tonja nichts gebeichtet. Noch konnte er die Erklärung bis zum
nächsten Mal aufschieben. Er würde noch einmal in die Stadt reiten und das
Gespräch mit Lara zu Ende führen, tief und herzlich, so daß alle seine Leiden
gesühnt wären. Oh, wie schön! Wie wunderbar! Erstaunlich, daß er darauf nicht
schon eher gekommen war!
Bei dem
Gedanken, er werde Lara noch einmal sehen, war Shiwago wie verrückt vor Freude.
Sein Herz hämmerte. Begeistert erlebte er alles noch einmal.
Die
Holzhäuser in den Gassen am Stadtrand, die hölzernen Bürgersteige. Er geht zu
ihr. Jetzt ist er in der Nowoswalotschny-Gasse, die unbebauten Flächen und der
hölzerne Teil der Stadt liegen hinter ihm, und es beginnt der steinerne Teil.
Die
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