Boris Pasternak
Häuschen der Vorstadt sind vorübergehuscht wie die Seiten eines Buches, die
man nicht mit dem Zeigefinger umblättert, sondern am Daumen vorüberschnurren
läßt. Atemberaubend! Dort wohnt sie, da drüben, unter dem hellen Streifen des
gegen Abend aufgeklarten regnerischen Himmels. Wie er diese wohlbekannten
Häuschen auf dem Weg zu ihr liebt! Am liebsten würde er sie von der Erde in die
Hände nehmen und abküssen! Da, die quer auf die Dächer gestülpten einäugigen
Mansarden! Die Leuchtbeeren der in den Pfützen gespiegelten Lichter und
Lämpchen! Darüber der helle Streifen des regnerischen Straßenhimmels. Dort wird
er wieder aus den Händen Gottes, ihres Schöpfers, diese weiße Pracht zum
Geschenk erhalten. Die dunkel vermummte Gestalt wird die Tür öffnen. Dann wird
die Verheißung ihrer Nähe, kalt und zurückhaltend wie die helle Nacht des
Nordens, niemandem gehörend, ihm entgegenrollen wie die erste Meereswelle, der
man im Dunkeln durch den Sand entgegenläuft.
Juri
Shiwago ließ die Zügel los, beugte sich im Sattel vor, legte dem Pferd die Arme
um den Hals und vergrub das Gesicht in der Mähne. Das Pferd, das diese Zärtlichkeit
als Aufforderung nahm, alle Kraft zu geben, fiel in Galopp.
In dem
weichen Flug des Reitens, in den Zwischenräumen zwischen den kaum spürbaren
Berührungen der Hufe mit der Erde, die sich von den Hufen löste und nach hinten
flog, hörte Shiwago außer den Schlägen seines Herzens, das vor Freude raste,
noch irgendwelche Rufe, die er sich jedoch nur einzubilden wähnte.
Ein naher
Schuß betäubte ihn. Er hob den Kopf, griff nach dem Zügel, zog ihn straff. Das
Pferd machte aus dem vollen Lauf ein paar breitbeinige Sprünge zur Seite und
bäumte sich auf.
Weiter
vorn gabelte sich der Weg. Shiwago sah in den Strahlen der untergehenden Sonne
das Firmenschild glänzen: »Moreau und Wetschinkin. Sämaschinen.
Dreschmaschinen«. Quer über den Weg standen, ihn blockierend, drei bewaffnete
Reiter. Ein Realschüler in Uniformmütze und Mantel, über Kreuz mit Maschinengewehrgurten
behängt, ein Kavallerist im Offiziersmantel, eine Kubanka auf dem Kopf, und ein
wie zum Maskenball herausgeputzter Dickwanst mit Stepphose, Wattejacke und
einem tief ins Gesicht gezogenen breitkrempigen Popenhut.
»Nicht von
der Stelle, Genosse Arzt«, sagte der älteste der drei, der Kavallerist mit der
Kubanka, ruhig und gelassen. »Wenn Sie sich fügen, garantiere ich Ihnen völlige
Sicherheit. Andernfalls, nicht böse sein, erschießen wir Sie. Der Feldscher
unserer Abteilung ist gefallen.
Wir
mobilisieren Sie zwangsweise als medizinischen Arbeiter. Steigen Sie ab und
geben Sie den Zügel dem jüngsten Genossen. Ich wiederhole: Beim kleinsten
Fluchtversuch wird nicht gefackelt.«
»Sind Sie
Mikulizyns Sohn Liweri, der Genosse Lesnych?«
»Nein, ich
bin sein Nachrichtenchef Kamennodworski.«
Zehnter Teil
Auf der großen Straße
Städte,
Dörfer, Bahnstationen. Die Stadt Krestowosdwishensk, die Staniza Omeltschino,
Pashinsk, Tyssjazkoje, die Siedlung Jaglinskoje, das Dorf Swonarskaja, die
Bahnstation Wolnoje, Gurtowstschiki, das Waldgehöft Keshemskaja, die Staniza
Kasejewo, das Dorf Kutejny Possad, das Dorf Maly Jermolai.
Durch sie
hindurch führte die Straße, uralt, die älteste in Sibirien, die alte
Poststraße. Wie ein Messer zerschnitt sie die Städte, als wären es Brotlaibe,
und die Dörfer durchlief sie, ohne sich umzudrehen, und ließ die Spaliere der
Häuserreihen weit hinter sich oder umbog sie im Halbkreis oder mit dem Haken
einer plötzlichen Kurve.
In ferner
Vergangenheit, noch vor dem Bau der Eisenbahn durch Chodatskoje, brausten
Posttroikas die Straße entlang. In die eine Richtung fuhren Fuhrwerke mit Tee,
Getreide und Eisenwaren, in die andere Richtung wurden etappenweise bewachte
Häftlingskolonnen getrieben. Sie gingen im Gleichschritt und klirrten
rhythmisch mit den eisernen Fesselketten, verlorene, verzweifelte arme Teufel,
furchteinflößend wie Blitze vom Himmel. Ringsum rauschten die Wälder, finster,
undurchdringlich.
Die Straße
war wie eine große Familie. Man kannte sich und war verwandt von Stadt zu
Stadt, von Siedlung zu Siedlung. In Chodatskoje, wo sie die Eisenbahnstrecke
kreuzte, befanden sich Lokomotivenausbesserungswerke und mechanische
Werkstätten, die der Eisenbahn dienten, hier fristeten Habenichtse ihr Dasein,
in Kasernen gepfercht, krank, dahinsiechend. Politische Verbannte mit
technischen Kenntnissen, die ihre Katorgastrafen
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