Boris Pasternak
ihrer Unfähigkeit. Der Mensch wird geboren, um zu
leben, nicht, um sich aufs Leben vorzubereiten. Das Leben selbst, die
Erscheinung des Lebens, das Geschenk des Lebens sind so zwingend ernst! Warum statt
dessen die kindische Harlekinade unausgegorener Einfälle, die Flucht von
Tschechows Schülern nach Amerika? Aber genug. Jetzt bin ich an der Reihe zu
fragen. Wir kamen am Morgen des Umschwungs vor der Stadt an. War es damals sehr
schlimm für Sie?«
»Na, und
ob! Natürlich. Überall hat es gebrannt. Wir wären beinahe mit verbrannt. Ich
habe Ihnen doch erzählt, wie unser Haus gewackelt hat! Auf dem Hof liegt noch
immer ein Blindgänger am Tor. Plünderungen, Bombardements, Gewalttaten. Wie bei
jedem Machtwechsel. Aber wir hatten schon unsere Erfahrungen, wir waren es
gewohnt. Es war nicht das erstemal. Was unter den Weißen los war! Hinterhältige
Morde aus persönlicher Rache, Erpressungen, wilde Gelage! Ja, aber das
Wichtigste habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt. Unser Galiullin! Der war unter
den Tschechen ein ganz großer Bonze. Irgend so was wie Generalgouverneur.«
»Ich weiß.
Habe davon gehört. Haben Sie ihn gesehen?«
»Sehr oft.
Wie vielen konnte ich das Leben retten dank ihm! Wie viele habe ich versteckt!
Man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hat sich makellos, ritterlich
benommen, nicht so wie all die kleinen Kosakenjessaule und Polizeiwachtmeister.
Aber den Ton gaben damals ausgerechnet diese Kleinen an und nicht die
anständigen Leute. Galiullin hat mir sehr geholfen, ich bin ihm zu Dank
verpflichtet. Schließlich sind wir alte Bekannte. Ich war als kleines Mädchen
oft in dem Hof, wo er aufgewachsen ist. In dem Haus lebten Eisenbahner. Als
Kind habe ich Not und Arbeit aus der Nähe kennengelernt. Dadurch habe ich eine
andere Einstellung zur Revolution als Sie. Sie ist mir näher. Vieles an ihr ist
mir verwandt. Auf einmal wird er Oberst, dieser kleine Junge, Sohn eines
Hausmeisters. Oder sogar weißer General. Ich komme aus zivilem Milieu und weiß
mit den Dienstgraden nicht so Bescheid. Von Beruf bin ich Geschichtslehrerin.
Ja, so ist das, Shiwago. Vielen habe ich helfen können. Ich bin immer wieder zu
ihm gegangen. Wir haben auch von Ihnen gesprochen. Ich habe schließlich in
allen Regierungen Freunde, Verbindungen, und ich habe unter jeder Macht Kummer
und Verluste gehabt. Das gibt's ja nur in schlechten Büchern, daß die Menschen
in zwei Lager geteilt sind und keine Berührung haben. In Wirklichkeit ist alles
miteinander verflochten! Was für ein unverbesserlicher Niemand muß man sein,
um im Leben nur eine Rolle zu spielen, in der Gesellschaft nur einen Platz
einzunehmen, immer nur ein und dasselbe zu bedeuten! — Ach, du bist hier?«
Ein
kleines Mädchen von vielleicht acht Jahren mit zwei dünnen Zöpfchen war
hereingekommen. Die schmalen, schrägen Augen verliehen ihr ein übermütiges, verschmitztes
Aussehen. Wenn sie lachte, zog sie die Augenbrauen hoch. Sie hatte schon vor
der Tür gemerkt, daß ihre Mutter Besuch hatte, doch als sie hereinkam, hielt
sie es für notwendig, plötzliche Verwunderung zu mimen, machte einen Knicks und
warf dem Arzt den starren, furchtlosen Blick des schon früh nachdenkenden,
allein aufwachsenden Kindes zu.
»Meine
Tochter Katenka. Sie sollten sie liebhaben und besuchen.«
»Sie haben
mir in Meljusejew Fotos gezeigt. Sie ist ja so groß geworden, hat sich
verändert!«
»Du bist
also zu Hause? Ich dachte, du wärst spazieren. Ich habe dich nicht kommen
hören.«
»Wie ich
den Schlüssel aus dem Loch genommen hab, war da eine riesengroße Ratte! Ich hab
geschrien und bin zur Seite gesprungen! Ich dachte, ich sterbe vor Angst.«
Während
Katenka sprach, verzog sie das niedliche Gesichtchen, riß die Schelmenaugen
weit auf und schürzte das Mündchen wie ein aus dem Wasser gezogener Fisch.
»Na, geh
in dein Zimmer. Ich will den Onkel überreden, zum Essen zu bleiben. Wenn ich
die Kascha aus der Backröhre hole, rufe ich.«
»Danke,
aber ich muß ablehnen. Da ich oft in die Stadt reite, essen wir um sechs zu
Mittag. Ich bin es gewohnt, pünktlich zu sein, und ich habe über drei Stunden
zu reiten, wenn nicht vier. Darum kam ich so früh zu Ihnen. Entschuldigen Sie,
aber ich muß bald los.«
»Ein
halbes Stündchen noch.«
»Mit
Vergnügen.«
»Und jetzt
Offenheit gegen Offenheit. Strelnikow, von dem Sie mir erzählt haben, ist mein
Mann Pawluscha, Pawel Pawlowitsch Antipow, den ich damals an der Front gesucht
und an dessen Tod
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