Boris Pasternak
Kummers. Am Tag hatte sie betrübt den überall
aushängenden Mobilmachungsbefehl gelesen, unter den auch ihr armer Dummkopf
von Sohn Terescha fiel. Sie verdrängte die mißvergnügten Gedanken, aber das
überall in der Dunkelheit weiß schimmernde Plakat erinnerte sie daran.
Ihr Haus
lag um die Ecke, ein Katzensprung. Aber im Freien fühlte sie sich wohler. Sie
wollte noch ein Weilchen an der Luft bleiben, es zog sie nicht in die
Stickigkeit des Hauses.
Traurige
Gedanken bestürmten sie. Wenn sie sie laut und folgerichtig gedacht hätte,
würden ihr Wortschatz und die Zeit bis zum Sonnenuntergang nicht ausgereicht
haben. Hier draußen auf der Straße stürzten die unfrohen Überlegungen
haufenweise auf sie ein, doch mit ihnen konnte sie in wenigen Minuten fertig
werden, während sie ein paarmal von der Ecke des Klosters bis zur Ecke des
Platzes ging.
Das lichte
Fest steht vor der Tür, und im Hause ist keine lebende Seele, alle sind weg und
haben sie allein gelassen. Oder etwa nicht? Doch, natürlich. Die Adoptivtochter
Xjuscha zählt nicht. Wer ist sie überhaupt? Eine fremde Seele ist immer ein
dunkles Geheimnis. Vielleicht ein Freund, vielleicht ein Feind, vielleicht eine
geheime Rivalin. Sie ist das Erbe aus seiner ersten Ehe, Wlassuschkas
angenommene Tochter. Aber vielleicht ist sie nicht angenommen, sondern
unehelich? Vielleicht ist sie auch überhaupt keine Tochter, sondern etwas ganz
anderes! Wer kann schon in der Seele eines Mannes lesen? Im übrigen ist gegen
das Mädchen nichts einzuwenden. Klug, schön, mustergültig. Viel klüger als der
dumme Terescha und der Adoptivvater.
Nun war
sie kurz vor der Osternacht mutterseelenallein, alle waren weg, jeder woanders.
Ihr Mann
Wlassuschka zieht die große Straße entlang, um den Rekruten Reden zu halten und
sie zu Heldentaten anzuspornen. Der Dummkopf soll sich lieber um den eigenen
Sohn kümmern und ihn vor der tödlichen Gefahr schützen.
Terescha
hat es auch nicht ausgehalten, sondern vor dem großen Fest das Weite gesucht.
Er ist nach Kutejny Possad zu Verwandten gefahren, um sich zu amüsieren und
sich über das erlittene Unrecht hinwegzutrösten. Der Junge ist von der
Realschule gewiesen worden. Die Hälfte der Klassen hat er zweimal gemacht, ohne
Folgen, doch in der Achten haben sie ihn erbarmungslos hinausgeworfen.
Ach, wie
traurig! O Gott! Warum ist mir nur so schlecht? Ich mag gar nichts mehr
anfangen, alles fällt mir aus den Händen, ich habe das Leben satt! Wovon kommt
das? Liegt es daran, daß wir Revolution haben? Nein, ach nein! Vom Krieg ist
es. Im Krieg ist die ganze Blüte der Männer gefallen, und die Faulen,
Untauglichen sind geblieben.
Wie schön
war es dagegen im Elternhaus, bei ihrem Vater, dem Unternehmer. Er trank
nicht, konnte lesen und schreiben, im Hause war von allem genug. Auch zwei
Schwestern hatte sie, Polja und Olja. Und so gut, wie die Namen zusammenpaßten,
vertrugen sie sich untereinander und waren eine immer schöner als die andere.
Zimmerleute, Vorarbeiter besuchten den Vater, angesehene, stattliche,
gewinnmachende Männer. Die Schwestern kamen, nicht aus Not, auf die Idee, aus
Wolle Schals zu stricken, ein guter Einfall, und sie entwickelten dabei soviel
Geschick, daß ihre Schals im ganzen Umkreis berühmt wurden. Damals freute sie
alles, weil das Leben ausgefüllt und harmonisch war - der Gottesdienst, das
Tanzen, die Menschen, die Manieren, dabei stammte die Familie aus einfachen
Verhältnissen, es waren Kleinbürger aus dem Stand der Bauern und Arbeiter.
Rußland war auch noch eine Jungfrau und hatte wirkliche Verehrer, wirkliche
Verteidiger, kein Vergleich mit den heutigen. Jetzt ist von allem der Glanz
herunter, überall das Zivilgesindel der Advokaten, und das Judenpack kaut Tag
und Nacht unablässig an Wörtern und erstickt fast daran. Wlassuschka und seine
Kumpels wollen die goldene alte Zeit mit Champagner und guten Wünschen wieder
zurückholen. Aber kann man so eine verlorene Liebe zurückgewinnen? Dazu muß man
Steine bewegen, Berge versetzen, Erde graben!
Frau Galusina
war schon ein paarmal bis zum Marktplatz von Krestowosdwishensk gegangen. Von
hier aus ging es links um die Ecke zu ihrem Haus. Aber sie überlegte es sich
jedesmal wieder anders, kehrte um und drang wieder in die an das Kloster
grenzenden Winkel.
Der
Marktplatz hatte die Größe eines großen Feldes. Früher, wenn Markttag war,
stand er voll mit den Fuhrwerken der Bauern. Auf der einen Seite grenzte er
ans Ende der
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