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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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Jeljoninskaja-Straße. Die andere Seite war in einem schiefen Bogen
mit kleinen Häusern zugebaut, einoder zweistöckig. Sie alle beherbergten
Speicher, Kontore, Geschäfte, Werkstätten von Handwerkern.
    Hier
pflegte in den ruhigen Zeiten vor dem besonders breiten Tor mit den vier
Flügeln ein bärenhafter Grobian mit Brille und langem Gehrock auf einem Stuhl
zu sitzen und eine billige Zeitung zu lesen, der Frauenhasser Brjuchanow, der
mit Leder, Teer, Rädern, Pferdegeschirren, Hafer und Heu handelte.
    Hier
verstaubten hinter einem kleinen trüben Schaufensterjahrelang ein paar
Pappkartons mit Schleifenpaaren, Sträußchen und Hochzeitskerzen. Hinter dem
Fenster, in einer leeren Kammer ohne Möbel und fast ohne Waren, wenn man die
übereinandergestapelten Wachskuchen nicht rechnete, wurden Geschäfte über
Tausende von Rubeln abgeschlossen, Aufträge für Mastix, Wachs und Kerzen; die
Besteller waren Beauftragte eines irgendwo lebenden Kerzenmillionärs.
    In der
Mitte dieser Häuserzeile befand sich der Kolonialwarenladen der Galusins mit
seinen drei Schaufenstern. Der rissige, ungestrichene Fußboden wurde dreimal
am Tag mit dünnem Tee ausgefegt, wie ihn der Hausherr und seine Gehilfen den
ganzen Tag ohne Maß tranken. Die junge Hausfrau saß oft und gern hinter der
Kasse. Ihre Lieblingsfarbe war lila, violett, die Farbe der feierlichen
Kirchengewänder, die Farbe des knospenden Flieders, die Farbe ihres besten
Samtkleids, die Farbe ihres Weins bei Tisch. Die Farbe des Glücks, die Farbe
der Erinnerungen, die Farbe der untergegangenen Jungfräulichkeit Rußlands vor
der Revolution war, wie sie glaubte, ebenfalls hellfliederblau. Sie saß gern
hinter der Kasse im Laden, denn das nach Stärke, Zucker und den dunkellila
Schwarze-Johannisbeer-Bonbons im Glas duftende violette Dämmerlicht des Ladens
paßte zu ihrer Lieblingsfarbe.
    Hier an
der Ecke, neben einem Holzspeicher, stand ein altes, zweistöckiges Holzhaus,
das in die Erde eingesunken war und wie ein klappriger Reisewagen aussah. Es
hatte vier Wohnungen und zwei Eingänge an beiden Ecken der Vorderfront. In der
linken Hälfte war die Apotheke von Salkind, in der rechten das Büro eines
Notars. Über der Apotheke wohnte der betagte Damenschneider Schmulewitsch mit
seiner großen Familie. Auf der anderen Seite, über dem Notar, wohnten viele
Mieter, auf deren Berufe Schilder und Tafeln hindeuteten, die die ganze
Eingangstür bedeckten. Hier wurden Uhren repariert, und ein Schuhmacher nahm
Aufträge entgegen. Hier unterhielten die Kompagnons Shuk und Schtrodach ihre
fotografische Anstalt, und hier befand sich die Graviererei von Kaminski.
    Wegen der
Enge in der überfüllten Wohnung hatten sich die jungen Gehilfen der beiden
Fotografen, der Retuscheur Senja Magidson und der Student Blashejin, eine Art
Laboratorium im Hof eingerichtet, im Durchgang des Holzspeichers. Dort waren
sie offensichtlich auch jetzt beschäftigt, nach dem bösen Auge des roten
Entwicklerlämpchens zu urteilen, das trüb durch ein Fensterchen im Durchgang
blinkte. Unter diesem Fensterchen saß angekettet der junge Hund Tomik, dessen
Gewinsel durch die ganze Jeljoninskaja-Straße schallte.
    Da ist
wieder der ganze Kahal beisammen, dachte Frau Galusina, als sie an dem grauen
Gebäude vorbeikam. Eine Spelunke von Armut und Schmutz. Aber gleich darauf
ging ihr durch den Sinn, daß ihr Mann Wlassuschka, Wlas Pachomowitsch, mit
seinem Judenhaß unrecht hatte. Diese Leute waren gar zu kleine Fische, als daß
sie für das Schicksal des Reiches irgendeine Bedeutung hätten. Im übrigen,
wenn man den alten Schmulewitsch fragte, wo Zwist und Unordnung herkämen,
krümmte er sich, verzog das Gesicht und sagte zähnefletschend: »Das sind alles
Lejbotschkas Streiche.«
    Ach,
worüber, worüber dachte sie nur nach, was beschäftigte ihren Kopf? Ging es
denn darum, kam daher das Unglück? Das Unglück kam von den Städten. Nicht sie
waren Rußlands Stütze. Die Menschen liebäugelten mit der Bildung, eiferten den
Städtern nach und holten sie doch nicht ein. Sie waren von ihrem Ufer
abgefahren, hatten aber am anderen noch nicht angelegt.
    Vielleicht
aber kam auch alles von der Unwissenheit. Ein Gebildeter durchschaut die ganze
Erde und weiß alles vorher. Wir dagegen, wenn man uns den Kopf abschlägt,
greifen nach der Mütze. Wie im finsteren Wald leben wir. Die Gebildeten haben
jetzt auch kein Zuckerlecken. Der Hunger treibt sie aus den Städten. Aus alldem
soll man nun klug werden. Da bricht sich

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