Boris Pasternak
sehr schlechte Wortwahl! »Abgeschmackt« waren für sie
sowohl die Stimme des Instinkts als auch die pornographische Literatur, die
Ausbeutung der Frau und nachgerade die ganze Welt des Geschlechtslebens. Rot
und blaß werden sie, wenn sie dieses Wort aussprechen!
Wenn ich ständig in Moskau
wäre, dachte Wedenjapin, würde ich sie nicht so weit gehen lassen. Scham muß
sein, aber in gewissen Grenzen...
»Ah, Nil Feoktistowitsch,
herzlich willkommen«, rief er und ging seinem Besucher entgegen.
Herein kam ein dicker Mann in
einem langen grauen Hemd, um das ein breiter Riemen geschlungen war. Er trug
Filzstiefel, und die Hosenbeine bauschten sich über den Knien. Er machte den
Eindruck eines gutmütigen Mannes, der in den Wolken schwebt. Auf seiner Nase
saß ein bösartig hüpfender kleiner Kneifer an einem breiten schwarzen Band.
Er legte in der Diele ab,
behielt jedoch den Schal um, dessen Ende über den Fußboden schleifte, und nahm
auch den runden Filzhut mit hinein. Diese Gegenstände behinderten ihn in seinen
Bewegungen, er konnte dem Hausherrn nicht die Hand drücken und war nicht einmal
in der Lage, ihn mit Worten zu begrüßen.
»Ah ... hm«, brummte er
verwirrt und blickte in sämtliche Winkel.
»Legen Sie's hin, wo Sie
wollen«, sagte Wedenjapin und gab damit seinem Besucher die Sprache und die
Selbstbeherrschung zurück.
Der Mann war ein Anhänger
Tolstois, in dessen Kopf die Gedanken des ruhelosen Genies eine lange und
ungetrübte Erholung genossen und rettungslos verflachten.
Wywolotschnow war gekommen, um
Wedenjapin einzuladen, in irgendeiner Schule für die politischen Verbannten zu
sprechen.
»Ich habe dort schon
gesprochen.«
»Zugunsten der Politischen?«
»Ja.«
»Tun Sie's noch einmal.«
Wedenjapin sträubte sich
zunächst und willigte schließlich ein.
Damit war der Anlaß des
Besuchs erledigt. Wedenjapin mochte seinen Besucher nicht zurückhalten. Der
hätte aufstehen und gehen können. Doch Wywolotschnow empfand es als
unschicklich, gleich wieder zu verschwinden. Er fühlte sich verpflichtet, zum
Abschied noch etwas Lebendiges, Ungezwungenes zu sagen. So kam es zu einem
verkrampften, unangenehmen Gespräch.
»Sie widmen sich der Dekadenz?
Beschäftigen sich mit Mystik?«
»Warum sollte ich?«
»Sie sind verloren. Erinnern
Sie sich an die Zeit im Semstwo?«
»Gewiß. Wir haben bei den
Wahlen zusammengearbeitet.«
»Wir haben für Dorfschulen und
Lehrerseminare gekämpft. Wissen Sie noch?«
»Gewiß. Es waren heiße Kämpfe.
Sie haben später wohl in der Volksgesundheit und bei der öffentlichen Fürsorge
gewirkt, nicht wahr?«
»Ja, eine Zeitlang.«
»Tja. Und jetzt diese Faune
und Nenufars, Epheben und >Seien wir der Sonne gleich<. Und wenn Sie mich
totschlagen, ich kann es nicht glauben. Ein so kluger Mann mit Sinn für Humor,
der zudem das Volk gut kennt... Lassen Sie davon ab, bitte... Oder dringe ich
vielleicht... Ist es etwas Geheimes?«
»Sie reden einfach daher, ohne
nachzudenken, warum? Worüber streiten wir eigentlich? Sie kennen doch meine
Gedanken gar nicht.«
»Rußland braucht Schulen und
Krankenhäuser, nicht Faune und Nenufars.«
»Niemand bestreitet das.«
»Der Mushik hat nichts auf dem
Leib und quillt auf vor Hunger... «
In solchen Sprüngen ging das
Gespräch weiter. Wedenjapin, obwohl er um die Sinnlosigkeit solcher Versuche
wußte, erklärte, was er mit einigen Schriftstellern des Symbolismus gemeinsam
hatte, und kam dann auf Tolstoi zu sprechen.
»Bis zu einem bestimmten Punkt
bin ich Ihrer Meinung. Aber Tolstoi sagt, je mehr sich ein Mensch der Schönheit
ergebe, desto weiter entferne er sich vom Guten.«
»Und Sie meinen, es wäre
umgekehrt? Die Welt würde gerettet von Schönheit, von Mysterien und ähnlichem,
von Rosanow und Dostojewski?«
»Einen Moment, ich sage Ihnen,
was ich denke. Ich denke, wenn man das im Menschen schlummernde Tier nur mit
angedrohten Strafen im Kittchen oder im Jenseits niederhalten könnte, wäre das
höchste Sinnbild der Menschheit der Zirkusdompteur mit der Peitsche und nicht
der sich aufopfernde Prediger. Aber den Menschen hat jahrhundertelang eben
nicht der Knüppel über das Tier erhoben und vorangebracht, sondern die Musik:
die Unwiderstehlichkeit der waffenlosen Wahrheit, die Anziehungskraft ihres
Beispiels. Bis heute hat man geglaubt, das Wichtigste im Evangelium wären die
sittlichen Sprüche und die in den Geboten festgelegten Regeln, für mich aber
ist die Hauptsache, daß Christus in Gleichnissen
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