Boris Pasternak
zu
treten, den Pfad entlang, der die morastige Lichtung vor der Eberesche
umrundete, und blieb wie angewurzelt stehen. Die Quacksalberin sang ein altes
russisches Lied, das er nicht kannte. Improvisierte sie?
Das
russische Lied ist wie Wasser in einem Staubecken. Es scheint stillzustehen und
sich nicht zu bewegen. In der Tiefe aber fließt es unaufhörlich aus den
Dammluken, und die Stille an der Oberfläche ist trügerisch.
Mit allen
Mitteln, Wiederholungen und Parallelismen, verzögert es den Ablauf des
allmählich sich entwickelnden Inhalts. An irgendeinem Punkt erschließt es sich
plötzlich, und wir sind verblüfft. Auf diese Weise äußert sich seine strenge,
beherrschte, sich selbst disziplinierende, schwermütige Kraft. Es ist der
verrückte Versuch, mit Worten die Zeit anzuhalten.
Es war
eine Art Sprechgesang, was die Quacksalberin von sich gab:
»Und es
lief ein Häslein durch die weiße Welt, durch die weiße Welt und durch den
weißen Schnee. Meister Lampe lief und lief zur Eberesche, zu der Eberesche,
klagte ihr sein Leid. Bin ein Hase, sagt' er, hab ein scheues Herz, hab ein
scheues Herz, und mir ist kalt darum. Bin ein Hase, furcht die Spur der wilden
Tiere, ihre Spur und auch des Wolfes Hungerrachen. Habe Mitleid mit mir,
Eberesche, Ebereschenbaum, des Waldes Zierde. Schenke deine Schönheit nicht dem
grimmen Feinde, nicht dem Feinde, nicht dem bösen Raben. Streue deine roten
Beeren in den Wind, in den Wind und auf den weißen Schnee. Wirf sie reichlich
auf die heimatliche Erde, in das letzte Haus am Rand des Dorfes. In das letzte
Fenster, in die kleine Stube. Dort verbirgt sich einsam wohl ein Mädchen, meine
Liebste, meine Heißersehnte. Sage meiner Liebsten leis ins Ohrchen heiße Worte,
liebevolle Worte. Bin gefangen, bin Soldat schon lange, schlimm ist es für den
Soldaten in der Fremde. Da bin ich der Gefangenschaft entflohen, entflohen und
will nun zu meiner Schönen.«
Die
Quacksalberin wollte die kranke Kuh von Palychs Frau Agafja Fotijewna, kurz
Fatewna genannt, besprechen. Die Kuh wurde von der Herde weg in ein Gebüsch
gebracht und mit den Hörnern an einen Baum gebunden. Vor den Vorderbeinen der
Kuh saß auf einem Baumstumpf die Besitzerin, bei den Hinterbeinen auf einem Melkbänkchen
die Soldatenfrau und Zauberin.
Die
gewaltige Viehherde drängte sich auf der kleinen Lichtung. Der dunkle Wald
umstand sie wie eine Wand aus bergeshohen dreieckigen Fichten, die gleichsam
mit den dicken Hinterteilen ihrer weitgespreizten unteren Zweige auf der Erde
saßen.
In
Sibirien wurde eine preisgekrönte Schweizer Rinderrasse gezüchtet. Fast alle
Tiere hatten das gleiche Fell, schwarz und weiß gefleckt. Die Kühe waren nicht
minder als die Menschen erschöpft von den Entbehrungen, den langen Märschen und
der unerträglichen Enge. Mit den Seiten aneinandergepreßt, wurden sie fast
wahnsinnig. In ihrem Stumpfsinn vergaßen sie ihr Geschlecht und stiegen wie
Bullen eine auf die andere, wobei die schweren Euter sie behinderten. Die
bestiegenen Färsen rissen sich, den Schwanz gereckt, von ihnen los, brachen
durch Gebüsch und Gezweig, flohen ins Dickicht, wohin die alten Hirten und die
Hütejungen ihnen schreiend folgten.
Und wie
die in dem engen Kreis, den die Fichtenwipfel in den Winterhimmel zeichneten,
zusammengepferchten Tiere drängten sich, ebenso stürmisch und ungeordnet, sich
bäumend und übereinandertürmend, die schwarzweißen Schneewolken über der
Lichtung im Walde.
Das
Häuflein Neugieriger, das aus einiger Entfernung zusah, störte die Kurpfuscherin.
Mit bösem Blick maß sie sie von Kopf bis Fuß. Aber es war unter ihrer Würde,
einzugestehen, daß sie sich behindert fühlte. Künstlerstolz hielt sie davon
ab. Darum tat sie, als ob sie sie nicht bemerkte. Der Arzt beobachtete sie aus
den hinteren Reihen, und sie konnte ihn nicht sehen.
Zum
erstenmal betrachtete er sie genauer. Sie trug ihre englische Mütze und den
erbsengrünen Interventenmantel mit den nachlässig aufgekrempelten Manschetten.
Im übrigen zeigten die hochmütigen Züge dumpfer Leidenschaftlichkeit und die
jung gebliebenen schwarzen Augen und Brauen der nicht mehr jungen Frau
deutlich, wie egal es ihr war, was sie trug.
Aber das
Aussehen von Palychs Frau bestürzte Doktor Shiwago. Er erkannte sie fast nicht
wieder. In den wenigen Tagen war sie schrecklich gealtert. Die vorquellenden
Augen drohten aus den Höhlen zu treten. An ihrem Hals, langgestreckt wie eine
Wagendeichsel, klopfte eine Ader. Das
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