Boris Pasternak
benehmen, sich auszudrücken! Warum sollte Lara
seine Charakterlosigkeit, die dunkle, irreale Sprache seiner Anbetung
Samdewjatow vorziehen? Was sollte ihr etwas so Verworrenes? Wollte sie selbst
diejenige sein, die sie für ihn war?
Aber was
war sie denn für ihn? Oh, auf diese Frage hatte er stets eine Antwort bereit.
Draußen
der Frühlingsabend. Die Luft war ganz und gar von Geräuschen markiert. Die
Stimmen der spielenden Kinder waren auf verschiedene Entfernungen verteilt wie
zum Zeichen dafür, daß der Raum noch durch und durch lebendig war. Und diese
Ferne - Rußland, seine unvergleichliche, in aller Welt von sich reden
machende, berühmte Mutter, die Märtyrerin, dickköpfig, unvernünftig, übermütig,
vergöttert, immer wieder gut für majestätische und verhängnisvolle Ausbrüche,
die sich nie voraussehen ließen! Wie süß war es zu existieren! Wie süß war es,
auf der Welt zu leben und das Leben zu lieben! Wie gern war man jederzeit
bereit, dem Leben, dem Dasein selbst danke ins Gesicht zu sagen!
Das alles
war Lara. Mit dem Leben, dem Dasein konnte man nicht reden, aber sie war deren
Vertreterin, deren Ausdruck, deren Gehör und Sprache, ein Geschenk der
stimmlosen Daseinsprinzipien.
Und
unwahr, tausendmal unwahr war alles, was er hier in den Momenten des Zweifels
von ihr gedacht hatte. Wie vollkommen und makellos war alles an ihr!
Tränen des
Entzückens und der Reue verschleierten ihm den Blick. Er öffnete die Ofenklappe
und schürte mit dem Haken das Feuer. Die flammende reine Glut schob er ganz
nach hinten, und die noch nicht verbrannten Scheite zog er nach vorn, wo der
Zug stärker war. Eine Zeitlang ließ er die Klappe offen. Mit Genuß fühlte er
das Spiel von Wärme und Licht im Gesicht und auf den Händen. Der huschende
Widerschein der Flammen ernüchterte ihn vollends. Oh, wie sie ihm jetzt fehlte,
wie sehr er sie brauchte, wie spürbar sie war!
Er holte
den zerdrückten Brief aus der Tasche. Da fiel sein Blick auf die Rückseite, und
er sah, daß auch sie beschrieben war. Er strich das Blatt glatt und las im
tanzenden Licht des Feuers:
Ȇber die
Deinen weißt Du Bescheid. Sie sind in Moskau. Tonja hat eine Tochter geboren.«
Es folgten ein paar durchgestrichene Zeilen. Dann weiter: »Ich habe dies
durchgestrichen, weil es dumm ist, darüber zu schreiben. Das werden wir unter
vier Augen besprechen. Ich bin in Eile, denn ich muß mir noch das Pferd holen.
Wenn ich es nicht bekomme, weiß ich nicht, was ich tun soll. Dann wird es
schwierig mit Katenka...« Das Ende des Satzes war verwischt und unleserlich.
Das Pferd
hat sie bestimmt von Samdewjatow holen wollen, und sie muß es bekommen haben,
denn sie ist ja weg, überlegte Shiwago ruhig. Wenn ihr Gewissen in dieser
Beziehung nicht vollkommen rein wäre, würde sie dieses Detail nicht erwähnt
haben.
Als der
Ofen durchgebrannt war, schloß Doktor Shiwago das Abzugsrohr und aß eine
Kleinigkeit. Nach dem Essen befiel ihn unüberwindliche Schläfrigkeit.
Angekleidet legte er sich aufs Sofa und schlief fest ein. Er hörte nicht das
ohrenbetäubende und rücksichtslose Toben der Ratten hinter der Tür und den
Wänden. Zwei schwere Träume suchten ihn nacheinander heim.
Er ist in
Moskau, in einem Zimmer vor einer verschlossenen Glastür, deren Klinke er
festhält. Hinter der Tür steht sein Saschenka, zappelt, weint und bittet,
hereingelassen zu werden, er trägt einen Kindermantel, eine Matrosenhose und
ein Mützchen, er ist hübsch und unglücklich. Hinter Saschenka stürzt, ihn und
die Tür mit Spritzern überschüttend, brausend und tosend ein Wasserfall
nieder, der aus der kaputten Wasserleitung oder aus der Kanalisation kommt,
eine Alltagserscheinung jener Zeit, vielleicht aber mündet an dieser Tür auch
eine wilde Bergschlucht mit einem wütend sie durchrasenden Wasserstrom und
jahrhundertelang angesammelter Kälte und Dunkelheit.
Das
niederbrausende Wasser ängstigt den Jungen zu Tode. Es ist nicht zu hören, was
er schreit, das Tosen erstickt seine Rufe. Aber Shiwago sieht seine Lippen ein
Wort formen: »Papa! Papa!«
Dem Vater
zerreißt es das Herz. Mit aller Kraft verlangt es ihn, den Jungen in die Arme
zu nehmen, an sich zu drücken und blindlings mit ihm davonzulaufen.
Statt
dessen hält er tränenüberströmt die Klinke der verschlossenen Tür fest und läßt
den Jungen nicht herein, opfert ihn einem falsch verstandenen Ehr- und Pflichtgefühl
gegenüber der anderen Frau, die nicht die Mutter des Jungen ist und
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