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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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jeden
Moment durch die andere Tür ins Zimmer treten kann.
    Shiwago
erwachte schweißgebadet und tränennaß. Ich habe Fieber, ich werde krank, dachte
er sogleich. Das ist nicht Typhus. Das ist eine schwere, gefährliche Ermüdung,
eine Krankheit mit einer Krise wie bei allen ernsthaften Infektionen, und es
ist die Frage, was die Oberhand gewinnt, Leben oder Tod. Wie gern möchte ich
schlafen! Und er schlief wieder ein.
    Im Traum
sah er einen dunklen Wintermorgen mit brennenden Laternen in einer belebten
Moskauer Straße, allen Anzeichen nach vor der Revolution, was sich schließen
ließ aus dem lebhaften Verkehr, aus dem Klingeln der ersten Straßenbahnen und
aus dem Licht der Nachtlaternen, das den grauen Schnee auf den Bürgersteigen
mit gelben Streifen musterte.
    Er ist in
einer langgestreckten Wohnung mit vielen Fenstern, alle nach derselben Seite,
nicht sehr hoch über der Straße, im ersten Stock wohl, mit Gardinen bis auf den
Fußboden. In der Wohnung schlafen in verschiedenen Stellungen straßenmäßig
angezogene Menschen, und es herrscht eine Unordnung wie in einem
Eisenbahnwaggon, auf fettigem Zeitungspapier liegen Speisereste, abgenagte
Knochen von gebratenen Hühnern, von Flügeln und Keulen, überall auf dem
Fußboden stehen paarweise zur Nacht ausgezogene Schuhe, die den nur kurz zu
Besuch gekommenen durchreisenden und unbehausten Verwandten und Bekannten
gehören. Durch die Wohnung läuft eilig und lautlos von einem Ende zum andern
die Hausfrau, Lara, in einem hastig gegürteten Morgenrock, und ihr auf den
Fersen folgt aufdringlich er, ihr unentwegt dumm und unangebracht etwas
auseinandersetzend, dabei hat sie keine Zeit für ihn und beantwortet seine
Erklärungen im Gehen nur mit einer Wendung des Kopfes, mit leisen verständnislosen
Blicken und unschuldigen Explosionen ihres unvergleichlich silberhellen
Lachens, den einzigen Formen der Nähe, die ihnen geblieben sind. Fern, kalt und
anziehend ist die Frau, der er alles gegeben, die er allem vorgezogen hat und
verglichen mit der alles niedrig und wertlos ist!
     
    Nicht er
selbst, sondern etwas Allgemeineres als er schluchzte und weinte in ihm mit
zarten und hellen, im Dunkel wie Phosphor leuchtenden Worten. Und mit seiner
weinenden Seele weinte auch er. Er tat sich selber leid.
    Ich werde
krank, ich bin krank, dachte er in lichten Momenten zwischen Schlaf,
Fieberphantasie und Bewußtlosigkeit. Das muß eine Art Typhus sein, der in den
Lehrbüchern noch nicht beschrieben ist und den wir an der Medizinischen
Fakultät nicht durchgenommen haben. Ich muß mir etwas zu essen machen, sonst
sterbe ich vor Hunger.
    Aber schon
beim ersten Versuch, sich auf den Ellbogen zu stützen, merkte er, daß er nicht die
Kraft hatte, sich zu bewegen; er verlor die Besinnung oder schlief ein.
    Wie lange
liege ich hier schon angezogen? überlegte er in einem lichten Moment. Wieviel
Stunden? Wieviel Tage? Als ich krank wurde, fing der Frühling an. Jetzt sind
die Fenster bereift. Der Reif ist so locker und so schmutzig, daß er das Zimmer
verdunkelt.
    In der
Küche sausten die Ratten über klirrende Teller, liefen die Wände hinauf,
klatschten schwer zu Boden und winselten scheußlich in weinerlichem Kontraalt.
    Wieder
schlief er und wachte auf und sah das schneeige Reifnetz auf den Fenstern im
Schein der Morgenröte rosig glühen wie Rotwein in Kristallgläsern. Er wußte
nicht und fragte sich, ob es das rote Licht des Morgens oder des Abends war.
    Einmal war
ihm, als hörte er ganz in der Nähe menschliche Stimmen, und da sank ihm der
Mut, denn er glaubte, das wäre beginnender Wahnsinn. Mit Tränen des
Selbstmitleids murrte er lautlos wider den Himmel, der sich von ihm abgewandt
und ihn verlassen habe. »Warum hast du mich verstoßen von deinem Angesicht, du
unvergängliches Licht, und mich in fremde, verruchte Finsternis gehüllt?«
    Und
plötzlich erkannte er, daß er nicht träumte und daß es wirklich stimmte — er
war ausgekleidet und gewaschen, trug ein reines Hemd und lag nicht auf dem
Sofa, sondern im frisch bezogenen Bett, und an seinem Bett saß, über ihn
gebeugt, ihre Haare und ihre Tränen mit den seinen vermischend, Lara. Da verlor
er vor Glück das Bewußtsein.
    In seinen
Fieberphantasien hatte er den Himmel der Teilnahmslosigkeit geziehen, und da
hatte sich der Himmel in seiner ganzen Weite aufsein Bett herabgesenkt, und
zwei lange weiße Frauenarme streckten sich nach ihm aus. Vor Glück wurde ihm
schwarz vor den Augen, und so wie man in Ohnmacht

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