Boris Pasternak
Körper hatte eine ziehende, wohlige Schwäche
erfaßt. Ungeduldig wartete er auf den Abend, um zu seiner nächtlichen Arbeit
zurückkehren zu können.
Die erste
Hälfte der Arbeit verrichtete für ihn der schläfrige Dunst, der ihn erfüllte
und alles, auch seine Gedanken, einhüllte. Die allgemeine Verschwommenheit
ging der präzisen, endgültigen Darstellung voraus. So wie die Verworrenheit der
ersten Rohentwürfe diente die peinigende Müßigkeit des Tages als notwendige
Vorbereitung für die Arbeitsnacht.
Die
Müdigkeit infolge des Nichtstuns ließ nichts unberührt, unverwandelt. Alles
veränderte sich, nahm ein anderes Aussehen an.
Shiwago
fühlte, daß seine Träume von einem längeren Aufenthalt in Warykino sich nicht
erfüllen würden, daß die Stunde der Trennung von Lara nahe war, daß er sie
unweigerlich verlieren würde und mit ihr den Lebenswillen, vielleicht auch das
Leben. Schwermut nagte an ihm. Noch mehr aber quälte ihn das Warten auf den
Abend und der Wunsch, diese Schwermut so ausdrucksstark hinauszuweinen, daß
jeder Leser darüber weinen mußte.
Die Wölfe,
an die er den ganzen Tag dachte, waren nicht mehr Wölfe im Schnee, im
Mondschein, sondern sie waren ein Thema, die Vorstellung von einer feindlichen
Kraft, die ihn und Lara verderben oder aus Warykino vertreiben wollte. Die Idee
dieser Feindlichkeit verstärkte sich und erreichte bis zum Abend eine solche
Kraft, als hätten sich in der Schlucht Schutma die Spuren eines vorsintflutlichen
Ungeheuers gefunden oder als lebte dort ein gewaltiger Lindwurm wie im Märchen,
der nach seinem und Laras Blut gierte.
Es wurde
Abend. So wie tags zuvor zündete Shiwago die Lampe auf dem Schreibtisch an.
Lara und Katenka legten sich früher als gestern zu Bett.
Was er in
der Nacht geschrieben hatte, zerfiel in zwei Kategorien. Das Alte, mit
Varianten ins reine geschriebene, stand in sauberer Schönschrift da. Das Neue
war flüchtig hingeworfen, skizziert, mit Punkten, kaum leserlich.
Während
Shiwago dieses Gekrakel entzifferte, widerfuhr ihm die gewohnte Enttäuschung.
In der vergangenen Nacht hatten ihn die Bruchstücke seiner Entwürfe zu Tränen
gerührt, und einiges Gelungene hatte ihn verblüfft. Aber gerade dieses
vermeintlich Gelungene betrübte ihn jetzt mit seiner Gezwungenheit.
Sein Leben
lang hatte er geträumt von einer originellen, geglätteten und gedämpften,
äußerlich nicht erkennbaren, durch allgemeine Gebräuchlichkeit und Gewohnheit
getarnten Form. Sein Leben lang hatte er gestrebt nach einem zurückhaltenden,
anspruchslosen Stil, der dem Leser und Hörer den Inhalt vermittelte, ohne daß
dieser bemerkte, auf welche Weise. Sein Leben lang hatte er sich um einen
unauffälligen Stil bemüht, der niemandes Aufmerksamkeit erregte, und jetzt war
er entsetzt darüber, wie weit er noch von diesem Ideal entfernt war.
In seinen
Entwürfen vom Vorabend hatte er mit Mitteln, die in ihrer Einfachheit bis zum
Stammeln gingen und an die Innigkeit eines Wiegenliedes erinnerten, seine
gemischte Stimmung von Liebe und Angst und Wehmut und Tapferkeit so ausdrücken
wollen, daß sie gleichsam an der Sprache vorbei, durch sich selbst herüberkäme.
Als er
jetzt diese Versuche durchsah, fand er, daß der inhaltliche Zusammenhalt
fehlte, der die einzelnen Strophen zu einem Ganzen verbunden hätte. Nach und
nach schrieb er die Entwürfe um, und dann gestaltete er in der gleichen
lyrischen Manier die Legende vom Tapferen Georg. Er begann mit fünfhebigen
Zeilen, die ihm viel Raum boten. Der Wohlklang, der diesem Versmaß unabhängig
vom Inhalt eigen ist, verdroß ihn mit seinem hölzernen, falschen Singsang. Da
gab er das aufgeblasene Metrum mit seiner Zäsur auf und drängte die Zeilen auf
vier Hebungen zusammen, so wie man in der Prosa gegen den Wortreichtum kämpft.
Nun wurde das Schreiben schwerer und zugleich verlockender. Die Arbeit lief
lebhaft, und doch war noch immer Geschwätzigkeit zu spüren. Da zwang er sich,
die Zeilen noch mehr zu verkürzen. In der dreihebigen Zeile wurde es den
Wörtern zu eng, die letzten Spuren der Schläfrigkeit verließen den
Schreibenden, er war hellwach, geriet in Feuer, die knappen Zwischenräume in
den Zeilen sagten von selbst, womit sie gefüllt werden wollten. Die kaum mit
Wörtern benannten Gegenstände wurden aus dem Zusammenhang ersichtlich. Er hörte
den Gang des Pferdes im Gedicht, so wie das Straucheln des Paßgängers in einer
Ballade von Chopin zu hören ist. Georg der Siegbringende sprengte
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