Boris Pasternak
nüchterne, wenn auch widerliche Mann letzten Endes vorgeschlagen hat. Hier
sind wir ja der Gefahr viel näher als irgendwo sonst. Diese grenzenlose Ebene,
offen für alle Wirbelstürme. Und wir mutterseelenallein mittendrin. In einer
einzigen Nacht schneit es uns womöglich so zu, daß wir uns am Morgen nicht mehr
freischaufeln können. Oder unser geheimnisvoller Wohltäter, der immer mal
wieder ins Haus kommt, taucht plötzlich auf, erweist sich als Räuber und sticht
uns ab. Hast du wenigstens eine Waffe? Nein, siehst du. Mich ängstigt deine
Unbekümmertheit, die mich ansteckt. Meine Gedanken sind völlig durcheinander.«
»Wenn's so
ist, was willst du? Was soll ich tun?«
»Das weiß
ich ja selber nicht. Du mußt mich ständig beherrschen. Du mußt mich immer
wieder daran erinnern, daß ich deine Sklavin ohne eigenes Urteil bin, die dich
blind liebt. Oh, ich sage dir, unsere Angehörigen, deine und meine, sind
tausendmal besser als wir. Aber geht es darum? Die Gabe der Liebe ist wie jede
andere Gabe. Sie kann auch groß sein, aber ohne Segen offenbart sie sich nicht.
Uns ist gewissermaßen beigebracht worden, uns im Himmel zu küssen, und dann
wurden wir als Kinder losgeschickt, um in derselben Zeit zu leben und diese
Fähigkeit aneinander auszuprobieren. Die Krone der Gemeinsamkeit, die gleiche
Seite, die gleiche Stufe, nicht hoch noch niedrig, die Gleichwertigkeit des
ganzen Wesens, all das bereitet Freude, all das ist zu einer Seele geworden.
Aber in dieser immerfort lauernden, wilden Zärtlichkeit ist etwas kindlich
Ungezügeltes, Unerlaubtes. Es ist ein eigenmächtiges, zerstörerisches Element,
dem häuslichen Frieden feindlich gesonnen. Es ist meine Pflicht, es zu fürchten
und ihm nicht zu vertrauen.«
Sie
schlang ihm die Arme um den Hals und schloß, mit den Tränen kämpfend:
»Verstehst du, wir sind in verschiedenen Situationen. Das Beflügeltsein ist dir
gegeben, damit du über den Wolken schweben kannst, während ich, die Frau, mich
an die Erde drücken und mit den Flügeln meinen Nestling vor Gefahren beschirmen
muß.«
Alles, was
sie sagte, gefiel ihm sehr, doch er zeigte es nicht, um nicht sentimental zu
werden. Zurückhaltend sagte er: »Unser Wanderleben ist tatsächlich falsch und
anormal, da hast du recht. Aber wir haben es uns nicht ausgesucht. Dieses
verrückte Herumziehen ist das Los aller Menschen, es liegt im Geist der Zeit.
Ich selbst
denke heute schon seit dem Morgen über etwa das gleiche nach. Ich wollte
eigentlich alles tun, um so lange wie möglich hierzubleiben. Ich kann dir gar
nicht sagen, wie ich mich nach Arbeit sehne. Ich meine nicht die
landwirtschaftliche Arbei t. Wir haben uns hier damals mit der ganzen Familie
hineingekniet, und sie ist uns gut von der Hand gegangen. Aber das könnte ich
nicht noch einmal. Ich habe anderes im Sinn.
Das Leben
kommt von allen Seiten her allmählich wieder in Ordnung. Vielleicht werden
irgendwann auch wieder Bücher herausgegeben.
Ich habe
mir folgendes überlegt. Könnten wir nicht mit Samdewjatow ein Abkommen treffen,
daß er uns ein halbes Jahr lang hier versorgt, zu vorteilhaften Bedingungen
für ihn? Seine Garantie wäre die Arbeit, die ich in dieser Zeit hier schreiben
würde, ein medizinisches Fachbuch etwa oder etwas Schöngeistiges, zum Beispiel
einen Gedichtband. Oder, sagen wir, ich könnte ein berühmtes Buch der
Weltliteratur ins Russische übersetzen. Ich kann doch Sprachen, und ich habe
kürzlich ein Inserat von einem großen Petersburger Verlag gelesen, der nur Übersetzungsliteratur
veröffentlicht. Arbeiten dieser Art haben sicherlich ihren Wert, der sich in
Geld ausdrücken läßt. Ich wäre so glücklich, irgend etwas in dieser Art zu
tun.«
»Gut, daß
du mich daran erinnerst. Ich habe heute auch schon an so etwas gedacht. Doch
ich glaube nicht, daß wir uns hier halten können. Im Gegenteil, ich habe das
Vorgefühl, daß es uns bald weitertreiben wird. Einstweilen aber haben wir
diese Behausung, und ich möchte dich um etwas bitten. Opfere mir in den
nächsten Nächten ein paar Stunden und schreibe bitte all das auf, was du mir
zu verschiedenen Zeiten aus der Erinnerung vorgetragen hast. Die Hälfte davon
ist verloren, die andere Hälfte nicht festgehalten, und ich fürchte, du
könntest alles vergessen, dann wäre es weg, wie es dir schon oft passiert ist,
das hast du mir erzählt.«
Am Abend
hatten sich alle mit dem warmen Wasser gewaschen, das von der Reinigungsaktion
reichlich übriggeblieben war. Lara
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