Boris Pasternak
Sibirien trennen, hinweg ansieht und als
ob es mich früher oder später verhexen wird. Also was soll mir das Ganze, die
angeblichen Kapitalien, die künstlich geschaffenen Konkurrenten, ihr Neid und
ihre Mißgunst. Und die Advokaten.«
»Trotzdem hättest du nicht
verzichten sollen«, widersprach Anna Iwanowna. »Wißt ihr, warum ich euch
hergebeten habe?« wiederholte sie und fuhr fort: »Sein Name ist mir wieder
eingefallen. Erinnert ihr euch, wie ich euch gestern vom Förster erzählte? Er
hieß Wakch, soviel wie Bacchus. Einmalig, nicht wahr? Ein schwarzes Schreckgespenst
aus dem Wald, bärtig bis an die Augenbrauen, und dann Wakch! Sein Gesicht war
entstellt, ein Bär hatte ihn so zugerichtet, aber er konnte ihn abwehren. Die
sehen dort alle so aus. Und haben einsilbige Namen, damit es knapp und straff
klingt. Wakch. Oder Lupp. Oder auch Faust.
Hört nur zu. Die kamen
manchmal irgendwas melden. Ein Awkt oder Frol, das klang wie eine Salve aus
beiden Läufen von Großvaters Jagdgewehr. Wir Kinder flitzten sofort aus unserm
Zimmer in die Küche. Könnt ihr euch das vorstellen, da war dann ein Köhler aus
dem Wald mit einem lebendigen Bärenjungen oder ein Waldhüter aus dem fernen
Grenzbereich mit einer Mineralprobe. Der Großvater hat ihnen immer einen Zettel
geschrieben. Für das Kontor. Eine Anweisung auf Geld oder Graupen oder
Gewehrpatronen. Vor den Fenstern hatten wir den Wald. Und Schnee, Schnee! Höher
als das Haus!« Anna Iwanowna hustete.
»Hör auf, Mutter, das Sprechen
schadet dir«, warnte Tonja, und Jura bekräftigte das.
»Unsinn. Geht schon wieder.
Ja, apropos, Jegorowna hat mir zugetragen, ihr hättet Zweifel, ob ihr
übermorgen zu der Weihnachtsfeier fahren sollt. Von solchen Dummheiten will ich
nichts hören! Schämt euch. Was willst du für ein Arzt sein? Also, es ist
beschlossen. Ihr fahrt hin, keine Widerrede. Aber zurück zu Wakch. Dieser Wakch
war in seiner Jugend Schmied. Bei einer Schlägerei haben sie ihm die Innereien
herausgerissen. Da hat er sich neue gemacht, aus Blech. Sei nicht komisch,
Jura, als ob ich das nicht wüßte. Natürlich nicht wörtlich. Aber die Leute
haben es erzählt.«
Anna Iwanowna hustete wieder,
diesmal länger. Der Anfall wollte nicht aufhören. Sie konnte nicht zu Atem
kommen.
Jura und Tonja stürzten zu
ihr. Schulter an Schulter standen sie vor ihrem Bett. Noch immer hustend,
ergriff Anna Iwanowna ihre Hände und hielt sie eine Zeitlang in den ihren.
Dann, wieder bei Atem und Stimme, sagte sie: »Wenn ich sterbe, geht nicht
auseinander. Ihr seid füreinander geschaffen. Heiratet. Jetzt habe ich euch
verlobt«, fügte sie hinzu und weinte.
Im Frühjahr
neunzehnhundertsechs, vor der Versetzung in die letzte Klasse des Gymnasiums,
wurde die sechs Monate währende Verbindung mit Komarowski für Lara
unerträglich. Er nutzte ihre Bedrücktheit sehr geschickt aus, und wenn es ihm
in den Kram paßte, was er freilich nicht zeigte, erinnerte er sie fein und
unmerklich an ihre Schande. Damit versetzte er sie in die Verwirrung, die ein
Lüstling bei einer Frau sucht. Diese Verwirrung trieb Lara noch tiefer in die
Gefangenschaft des sexuellen Alptraums, der ihr nach der Ernüchterung jedesmal
die Haare zu Berge stehen ließ. Die Widersprüche der nächtlichen Verrücktheiten
waren so unerklärlich wie die Schwarze Kunst. Alles war verkehrt und gegen die
Logik, scharfer Schmerz zeigte sich in Ausbrüchen silberhellen Lachens, Kampf
und Verweigerung bedeuteten Bereitschaft, und Küsse der Dankbarkeit bedeckten
die Hand des Peinigers.
Das Ganze schien kein Ende
nehmen zu wollen, aber in einer der letzten Stunden des Schuljahrs im Frühling
dachte sie daran, daß die Zudringlichkeiten sich im Sommer häufen würden, weil
sie da keinen Unterricht hatte, ihre letzte Zuflucht vor Begegnungen mit
Komarowski. Da faßte sie rasch einen Entschluß, der ihr Leben für lange Zeit
ändern sollte.
Es war ein heißer Morgen, ein
Gewitter braute sich zusammen. Der Unterricht, fand bei geöffneten Fenstern
statt. In der Ferne summte die Stadt, es war ein eintöniges Dauergeräusch wie
in einem Bienenstock. Von draußen drang das Geschrei spielender Kinder herein.
Der Grasgeruch der Erde und des jungen Grüns machte Kopfschmerzen wie der Wodka
und der Bratdunst der Eierplinsen in der Butterwoche.
Der Geschichtslehrer sprach
über Napoleons Ägyptenfeldzug. Als er zu der Einschiffung in Frejus kam, wurde
der Himmel schwarz und spaltete sich krachend durch Blitz und Donner, und
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