Boris Pasternak
Galizien, das wir in den ersten Monaten der kriegerischen Aktionen
besetzt hatten.
Doktor Shiwago, ehedem Jura
genannt und jetzt von den meisten mit vollem Vor- und Vatersnamen Juri
Andrejewitsch angeredet, stand im Korridor der Entbindungsstation der
Gynäkologischen Klinik vor dem Zimmer, in dem seine Frau lag, Tonja, Antonina
Alexandrowna, die er eben hergebracht hatte. Verabschiedet hatte er sich schon,
jetzt wartete er auf die Geburtshelferin, um sich mit ihr darüber zu
verständigen, wie sie ihn notfalls erreichen und wie er sich bei ihr nach
Tonjas Zustand erkundigen könne.
Er war in Eile, denn er mußte
ins Krankenhaus und vorher noch bei zwei Patienten Hausbesuche machen, und nun
verlor er hier kostbare Zeit. Er starrte durchs Fenster auf den schräg
pladdernden Regen, dessen Ströme der böige Herbstwind brach und zur Seite bog
wie ein Sturm die Ähren im Felde.
Es war noch nicht völlig
dunkel. Juri Shiwago sah die Hinterhöfe der Klinik, die verglasten Terrassen
der Villen auf dem Dewitschje-Feld und ein Abzweiggleis der Straßenbahn zum
Hintereingang eines der Krankenhausgebäude.
Der Regen strömte trostlos
einförmig, er wurde nicht stärker noch schwächer, ungeachtet der tobenden
Windstöße, die sich durch die Unerschütterlichkeit des niederrauschenden Regens
noch zu verstärken schienen. Die Böen peitschten die Reben des wilden Weins,
der sich um eine der Terrassen rankte, als wollten sie die Pflanze gänzlich
herausreißen, denn sie hoben sie in die Luft, schüttelten sie hängend durch und
ließen sie angewidert fallen wie ein löchriges Kleid.
An der Terrasse vorbei fuhr
ein Triebwagen mit zwei Anhängern auf die Klinik zu. Verwundete wurden in die
Klinik gebracht.
In den Moskauer Lazaretten,
die völlig überfüllt waren, besonders nach der Operation bei Luzk, wurden die
Verwundeten schon auf Treppenabsätzen und in Korridoren untergebracht. Die
allgemeine Überlastung der Krankenhäuser wirkte sich bereits auf den Zustand
der Frauenstationen aus.
Juri Shiwago wandte dem
Fenster den Rücken zu und gähnte vor
Müdigkeit. Es gab nichts, worüber er nachdenken
wollte. Da fiel ihm etwas ein. In der Chirurgie des
Kreuzerhöhungs-Frauenkrankenhauses, in dem er arbeitete, war dieser Tage eine
Patientin gestorben. Juri Shiwago hatte behauptet, sie habe Echinokokken in der
Leber. Alle hatten mit ihm gestritten. Heute würde man sie öffnen und die
Wahrheit feststellen. Aber der Prosektor des Krankenhauses war ein schlimmer
Säufer. Gott wußte, wann er sich die Obduktion vornehmen würde.
Es wurde schnell dunkel. Vor
dem Fenster war nichts mehr zu erkennen. Wie auf den Wink eines Zauberstabs
ging in sämtlichen Fenstern das Licht an.
Aus Tonjas Zimmer kam durch
den kleinen Windfang der Oberarzt der Station in den Korridor, ein Gynäkologe,
der wie ein Mastodont aussah und alle Fragen damit zu beantworten pflegte, daß
er die Augen nach oben verdrehte und die Achseln zuckte. Diese Bewegungen
bedeuteten in seiner mimischen Sprache — mögen Erfolge des Wissens noch so groß
sein, mein Freund Horatio, es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als
unsere Schulweisheit sich träumen lasse. Er kam an Juri Shiwago vorüber,
verbeugte sich lächelnd und machte mit seinen pummeligen Händen ein paar
Schwimmbewegungen, was bedeuten sollte, daß man abwarten und Tee trinken müsse,
dann ging er den Korridor entlang, um in der Aufnahme zu rauchen.
Zu Juri Shiwago trat die
Assistentin des wortkargen Gynäkologen, die mit ihrer Redseligkeit sein genaues
Gegenteil war.
»Ich an Ihrer Stelle würde
nach Hause fahren. Morgen rufe ich Sie im Krankenhaus an. Früher geht es
bestimmt nicht los. Ich bin sicher, es wird eine ganz natürliche Geburt ohne
künstlichen Eingriff. Andererseits aber geben das schmale Becken, die
Hinterhauptlage der Frucht, das Fehlen von Schmerzen und die Schwäche der
Kontraktionen einigen Anlaß zur Besorgnis. Im übrigen ist es zu früh, etwas
vorherzusagen. Alles wird davon abhängen, was für Preßwehen sie hat, wenn die
Geburt beginnt. Es wird sich zeigen.«
Tags darauf rief er selbst an,
und der Krankenhauswächter, der den Hörer abgenommen hatte, sagte ihm, er solle
nicht auflegen, ging sich erkundigen, ließ Juri Shiwago wohl zehn Minuten
schmachten und übermittelte ihm dann in grober und unbedarfter Form folgende
Auskunft: »Ich soll sagen, sag ihm, hat er gesagt, er hat seine Frau zu früh
hergebracht, er soll sie wieder abholen.« Juri Shiwago verlangte
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