Bottini, Oliver - Louise Boni 01
Schulter.
Niksch bog in eine breitere Landstraße ein. Rote Flecken pulsierten auf seiner Wange.
Sie hatte den Eindruck, dass der Schnee zu tauen begann. An manchen Stellen links und rechts der Straße waren jetzt schwarze Flecken sichtbar. Doch als sie vorbeirasten, erhoben sich die Flecken und wurden zu Raben. Gestern hatten sich Dinge bewegt, die sich nicht bewegen sollten. Heute änderten Dinge ihre Identität. Zwischen diesen Polen, dachte sie ein wenig amüsiert, lebte sie.
All das hatte mit Calambert begonnen. Calambert, der sich immer wieder aus den Tiefen ihrer Erinnerung erhob, in einem Eismeer aus Blut. Manchmal nistete er sich auf ihrer Netzhaut ein, dann sah sie die Welt durch einen Schleier aus Calambert.
Bermann hatte ihr Verhalten damals nicht einen Moment lang in Frage gestellt. Er hatte nie gefragt, ob sie sich ordnungsgemäß verhalten hatte. Er hätte fragen können: Hast du ihn gewarnt, dass du schießen wirst? Was genau hast du gerufen? Dass er stehen bleiben soll? Wie oft hast du gerufen? Er hatte dafür gesorgt, dass auch niemand anders solche Fragen stellte. Seltsam, dachte sie, sie fand Bermann sogar dann unangenehm, wenn er nett war.
Calambert und Bermann. Manchmal traten sie im Doppelpack auf.
Sie drehte sich von Niksch weg. «Niksch, halt bitte an der nächsten Tankstelle.»
Die folgenden Minuten verbrachte sie im Halb-schlaf. Wirre Bilder und Gedanken rasten durch ihren Kopf. Calambert und Bermann waren fort, Hollerer und Lederle verschwanden bald. Nur die Gesichter von Mick und dem Mönch schienen manchmal auf, dazu kam Anatol, der Taxifahrer von gestern Mittag, der die eckige Sonnenbrille selbst trug. Niemand sagte etwas in ihrem Kopf, nur sie sprach. Sie war nackt und sagte zu allen: Seht mich an.
Niksch fuhr unvermindert schnell, obwohl der Verkehr allmählich zunahm. Er schien am Reden Gefallen gefunden zu haben, denn wann immer sie aus dem Dösen aufschrak, sprach er. Ein-, zweimal gelang es ihr, für ein paar Augenblicke zuzuhören. Da er-zählte er von seiner Verlobten, Theres, der Tochter des Metzgers von Liebau.
Auch Theres fuhr Rallyes.
«Theres», sagte Louise ungläubig. «Theres und Niksch.»
Niksch lächelte freundlich und fragte: «Gibt’s in Freiburg Döner?»
Später weckte er sie. Sie standen mit laufendem Motor an einer Tankstelle. Das Erste, was Louise auffiel, war, dass das Reden Niksch verändert hatte. Er wirkte sanft und gelassen. Mit rosigen Wangen sah er sie an. Zufrieden runzelte er die Stirn und nickte, als wollte er sagen: So ist das mit der Welt im Allgemei-nen und Theres und mir im Besonderen.
Das Zweite, was ihr auffiel, war, dass sie vor ein paar Wochen schon einmal an dieser Tankstelle ein-gekauft hatte. An der Kasse hinter der Glasscheibe stand ein dicker, junger Mann mit Kurzhaarschnitt.
Sie erinnerte sich nicht an ihn, aber ihr war klar, dass das nichts heißen musste.
«Fahr weiter, Niksch», sagte sie, «und erzähl noch ein bisschen, war grad so interessant.»
In Freiburg taute es tatsächlich.
Sie hielten an der ersten geöffneten Tankstelle innerhalb der Stadtgrenze. Louise war einigermaßen sicher, dass sie hier noch nie gewesen war. Sie stellte drei Flaschen Orangensaft, drei Flaschen Cola und je zwei Flaschen Wodka und Bourbon auf den Kassen-tresen. «Kleine Sonntagsparty», sagte sie und lächelte anzüglich.
Der bärtige türkische Angestellte grunzte, ohne aufzusehen. Sie bezahlte bar, bat um drei Tüten und packte die Flaschen mit einem demonstrativen Gähnen ein.
Dann ließ sie sich den Toilettenschlüssel geben.
Während der Fahrt durch die Stadt erfuhr sie, dass Niksch Polizist war, weil das der Traum seiner Mutter gewesen war. Ein Polizist in der Familie brachte Sicherheit. Niemand wagte sich an eine Familie, wenn der Sohn Polizist war. Nicht mal Gott und das Schicksal, sagte seine Mutter. Als Louise fragte, ob seine Mutter in Beirut lebe, kicherte Niksch. Dann erzählte er, dass im vorletzten Jahr im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald 11.397 Straftaten erfasst worden waren, 9,8 Prozent mehr als im Vorjahr. Bei Sexual-straftaten hatte man eine Zunahme von 18 Prozent verzeichnet. Niksch hatte drei jüngere Schwestern.
Aber ein Polizist in der Familie brachte Sicherheit.
«Lebt deine Mutter in Beirut?», fragte Louise. Im selben Moment begriff sie, dass sie die Frage bereits gestellt hatte. Niksch runzelte die Stirn. «Da vorn links», sagte sie rasch, «wir fahren erst zu mir.»
In ihrer Wohnung verstaute sie
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