Bradbury, Ray - Halloween
die Grabkammer die alte, trockene Zunge herausgestreckt, die jetzt zu ihren Füßen
lag.
Die Jungen starrten sie ungläubig an. Der Leinenstreifen war Hunderte Meter lang und konnte sie,
wenn sie wollten, hinunterführen in die geheimnisvollen Tiefen unter der ägyptischen Wüste.
Zitternd streckte Tom Skelitt den Fuß aus und berührte mit der Schuhspitze den vergilbten Stoff.
Ein Windstoß kam aus der Grabkammer und
seufzte: »Jaaa …«
»Na, dann …« sagte Tom.
Er trat auf den Leinenstreifen, balancierte darauf
wie auf einem Seil und verschwand in der Finsternis
der Grabkammer.
»Jaaa …!« raunte der Wind aus den Tiefen. »Ihr
alle. Kommt. Der Nächste. Der Nächste. Und noch
einer und noch einer. Schnell.«
Die Jungen rannten im Dunkeln den Weg aus Stoff
hinab.
»Paßt auf, Jungs! Hier gibt es Mord! Mord!«
Die Säulen, an denen die Jungen vorbeikamen,
erwachten zum Leben. Bilder erzitterten und begannen sich zu bewegen.
Auf jeder Säule war die goldene Sonne.
Doch es war eine Sonne mit Armen und Beinen,
die fest in Mumienbinden eingewickelt waren.
»Mord!«
Ein dunkles Etwas versetzte der Sonne einen
schrecklichen Schlag.
Die Sonne starb. Ihr Feuer erstarb.
Die Jungen rannten in der Finsternis dahin.
Ja, dachte Tom im Laufen, klar, ich meine, irgendwie stirbt die Sonne jeden Abend. Wenn ich
schlafen gehe, frage ich mich immer, ob sie wohl
wiederkommt. Oder wird sie morgen früh immer
noch tot sein?
Die Jungen rannten. Auf neuen Säulen direkt vor
ihnen erschien die Sonne wieder, brach aus der Finsternis hervor.
Klasse! dachte Tom. Genau! Sonnenaufgang!
Doch ebenso schnell wurde die Sonne wieder ermordet. Auf jeder Säule starb sie im Herbst und wurde in kaltem Winter begraben.
Mitte Dezember, dachte Tom. Da denke ich oft:
Die Sonne kommt nie zurück! Jetzt bleibt es immer
Winter. Diesmal ist die Sonne wirklich tot!
Doch als die Jungen am Ende des langen Ganges
langsamer wurden, wurde die Sonne wiedergeboren.
Der Frühling kam mit goldenen Hörnern. Licht erfüllte den Gang mit reinem Feuer.
An allen Wänden stand brennend der seltsame
Gott. Sein Gesicht war mit goldenen Bändern umwickelt und brannte in einem großen Feuer des Triumphs.
»Ha! Ich weiß, wer das ist!« keuchte Henry-Hank.
»Den hab ich mal in einem Film mit so gruseligen
ägyptischen Mumien gesehen.«
»Osiris«, sagte Tom.
»Jaaa«, flüsterte Downgrounds Stimme aus den
Tiefen der Grabkammer. »Lektion Nummer eins
über Halloween. Osiris, Sohn der Erde und des
Himmels, wird jede Nacht von seinem Bruder Dunkelheit getötet. Osiris wird vom Herbst ermordet,
von seinem eigenen, dunklen Fleisch und Blut.
So ist es in jedem Land, Jungs. Jedes Land hat sein
eigenes Totenfest, und das hat etwas mit den Jahreszeiten zu tun. Mit Knochen und Totenschädeln,
Jungs, mit Skeletten und Geistern. Hier in Ägypten
seht ihr den Tod von Osiris, dem König der Toten.
Gebt gut acht!«
Die Jungen gaben acht.
Sie waren an ein riesiges Loch in der unterirdischen Höhle gekommen, und durch dieses Loch
konnten sie ein ägyptisches Dorf sehen, wo nun, bei
Sonnenuntergang, Speisen in irdenen und kupfernen
Schüsseln auf Türschwellen und Veranden gestellt
wurden.
»Für die heimkehrenden Geister«, flüsterte Downground irgendwo in den Schatten.
Öllämpchen wurden an Fassaden befestigt, und ihre feinen Rauchfähnchen stiegen im Dämmerlicht auf
wie ruhelose Geister.
Man konnte fast sehen, wie die Geister durch die
gepflasterten Straßen glitten.
Die Schatten neigten sich, bogen sich von der verlorenen Sonne im Westen weg und versuchten, in die
Häuser zu gelangen.
Doch die warmen Speisen, die auf den Veranden
verdampften, zogen die Schatten so in ihren Bann,
daß sie sie tanzend umkreisten.
Ein leiser Geruch nach Räucherwerk und Mumienstaub trieb hinauf zu den Jungen, die dieses uralte
Halloweenfest sahen, wo man nicht umherschweifenden Jungen, sondern heimatlosen Geistern »etwas
Schönes« gab.
»Mann!« flüsterten die Jungen.
»Verirrt euch nicht im Dunkeln«, sangen Stimmen
in den Häusern zum Klang von Harfen und Lauten.
»Geliebte Tote, kommt heim, seid willkommen. Die
Finsternis kam und hat euch genommen. Ihr sollt
nicht ruhe- und rastlos sein. O kommt doch, ihr Lieben, kommt heim, kommt heim.«
Rauch kräuselte sich über den trüben Lämpchen.
Und die Schatten traten auf die Veranden und berührten ganz leicht die dargebotenen Speisen.
Und in einem Haus konnten sie sehen, wie eine alte Großvater-Mumie aus einem
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