Bradbury, Ray - Halloween
behauptete, er sei ein Wasserspeier, auch wenn alle meinten, er sehe eher aus wie
Quasimodo.
Fred Fryer – ein Bettler frisch aus dem Straßengraben, keine Frage.
Und zu guter Letzt: »Hackles« Nibley, der sich in
letzter Minute eine Verkleidung zusammengestoppelt
hatte, indem er eine weiße Maske übergestülpt und
sich die große Sense seines Großvaters von der Garagenwand geschnappt hatte.
Als alle Jungen sicher auf englischer Erde gelandet waren, fielen die unzähligen Herbstblätter von
ihnen ab und stoben davon.
Sie standen mitten in einem riesigen Weizenfeld.
»Hier, Meister Nibley, ich habe dir deine Sense
mitgebracht. Da! Nimm! Und jetzt runter!« befahl
Downground. »Der Totengott der Druiden! Samhain!
Runter!«
Sie warfen sich auf den Boden.
Denn aus dem Himmel fuhr eine riesige Sichel.
Sie zerschnitt den Wind mit ihrer haarfeinen Schneide. Mit ihrem pfeifenden Blatt zerteilte sie Wolken.
Sie köpfte Bäume. Sie glitt wie ein Rasiermesser über
die Flanke des Hügels. Es war eine saubere Weizenrasur. Ein Getreidesturm fegte über sie hinweg.
Und bei jedem Schnitt, jedem Schwung, jedem
Sensenstreich war die Luft erfüllt von Klagen, Jammern, Schreien.
Die Sense zischte heran.
Die Jungen duckten sich.
»Hung!« grunzte eine gewaltige Stimme.
»Mr. Downground, sind Sie das?« rief Tom.
Denn über ihnen ragte eine von einem Umhang
verhüllte Gestalt zehn Meter hoch auf. Sie hielt eine
riesige Sense in den Händen, und ihr Gesicht war in
einem mitternachtsschwarzen Nebel verborgen.
Die Sense pfiff: fisss!
»Nein, bitte nicht, Mr. Downground!«
»Haltet den Mund!« Jemand stieß Toms Ellbogen
an. Mr. Downground lag neben ihm auf dem Boden.
»Das bin ich nicht. Das ist …«
»Samhain!« rief die Stimme aus dem Nebel. »Der
Totengott! Ich ernte so … Und so!«
Sssswuschhh!
»Es sind alle versammelt, die in diesem Jahr gestorben sind. Und für ihre Sünden sollen sie in dieser
Nacht verwandelt werden in Getier!«
Sssswuschhh!
»Bitte!« wimmerte Ralph die Mumie.
Ssswisch! Die Sense schlitzte Hackles Nibleys
Kostüm auf, legte seinen Rücken frei und schlug ihm
seine eigene kleine Sense aus der Hand.
»Getier!«
Der geschnittene Weizen wurde hochgeworfen
und vom Wind verwirbelt. Die Seelen schrien – all
die, die in den letzten zwölf Monaten gestorben waren, regneten zu Boden. Und im Fallen oder beim
Berühren des Bodens verwandelten sich die Ähren in
Esel, Hühner, Schlangen, die schrien, gackerten,
züngelten. Doch alle waren winzig, Miniaturausgaben, nicht größer als ein Wurm, als ein Zeh, als eine
abgeschnittene Nasenspitze. Wild durcheinander, zu
Hunderten und Tausenden schneiten die Ähren herab
und wurden zu Spinnen, die nicht schreien und weinen und um Gnade betteln konnten, sondern nur
stumm über das Stoppelfeld rannten und über die
Jungen hinwegkrabbelten. Hundert Tausendfüßler
liefen über Ralphs Rückgrat. Zweihundert Blutegel
klebten an Hackles Nibleys Sense, bis er sie mit einem Alptraum-Keuchen abschüttelte. Überall regnete
es Schwarze Witwen und kleine Boa Constrictors.
»Für eure Sünden! Für eure Sünden! Nehmt dies!
Und das!« brüllte die Stimme am pfeifenden Himmel.
Die Sense blitzte. Der zerschnittene Wind grollte
donnernd. Der Weizen wogte und gebar eine Million
Ähren. Die Ähren fielen zu Boden. Sünder schlugen
auf die Steine und wurden dabei in Frösche und Kröten und stinkende Quallen und tausenderlei geschupptes Gewürm mit kurzen Beinen verwandelt.
»Ich will nie wieder etwas Böses tun!« betete
Tom.
»Wenn wir nur am Leben bleiben«, fügte HenryHank hinzu.
Das sagten sie sehr laut, denn die Sense machte
einen höllischen Lärm. Es war, als fiele eine Ozeanwelle vom Himmel, als wüsche sie einen Strand sauber und hebe sich dann wieder hinweg, um noch
mehr Wolken einzufangen. Selbst die Wolken schienen kurze, inbrünstige Gebete um Rettung zu flüstern: Nicht ich! Nicht ich!
»Für all das Böse, das ihr getan habt!« sagte Samhain.
Und die Sense schnitt, und die Seelen wurden geerntet und fielen als blinde Molche und widerwärtige
Wanzen und ekelhafte Kakerlaken zu Boden, wo sie
wuselten, hinkten, krochen, krabbelten.
»Au Mann, er ist ein Käfermacher!«
»Ein Flohzerquetscher!«
»Schlangenzertreter!«
»Kakerlakenkiller!«
»Fliegenfänger!«
»Nein! Ich bin Samhain, der Oktobergott, der Totengott.«
Samhain stampfte mit dem riesigen Fuß auf und
trat tausend Käfer, zehntausend winzige SeelenTierchen in den Staub.
»Ich
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