Braeutigame
Ware!“ Kinder zogen über den Platz und streckten ihr leere, schmutzige Hände entgegen. Kriegsversehrte saßen auf dem Boden, lehnten sich mit dem Rücken gegen die wenigen Metallpoller, die die Nazis nicht eingeschmolzen und die Bomben nic ht zerrissen hatten. Sie trugen Uniformen, aus denen sie die Abzeichen von Dienstgrad und Partei herausgeschnitten hatten.
Über einem Zelt auf dem Bahnhof splatz hing die Fahne mit dem roten Kreuz. Zu beiden Seiten eines Vorbaus waren weiße Kautschukp lanen hochgeklappt. Sie bildeten dreieckige Öffnungen, die als Eingänge dien ten. Alma betrat das Z elt und arbeitete sich langsam mit den Armen und Händen, sich links rechts flüsternd entschuldigend, in die vorderen Reihen durch, um die Anschläge zu sehen. Es fiel ihr schwer. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um die Zettel lesen und die kleinen Bilder erkennen zu können. Sie studierte die schwarz-weißen Gesichter, vor allem die Männer – vor allem die in Uniform –, und sie las die Anschläge, in Handschrift die meisten, manche in schlechtem Deutsch, aber alle leserlich geschrieben, in Großbuchstaben. VERMISST. OSTFRONT: WER KENNT. HINTERPOMMERN (B. SCHLACHTE). UNSER SOHN ROBERT KREISSNER. KRIEGSVERSEHRT. ZULETZT GESEHEN BEI KÖNIGSBERG. ADOLF JUNGHUHN 5 J. OBERSCHLESIEN.
Die Anschläge liefen in beide Richtungen fort, mehr als sie würde lesen können. Es mussten Tausende sein, die fehlten – und suchten – und vermissten – und hof ften. Neben ihr stand eine Frau im Mantel, Mitte sechzig, der Ansatz eines Buckels , Eiterblasen auf der Unterlippe, die sich stumm und tonlos ihre Augen mit einem Taschentuch trocknete. Sie schien allein zu sein. Eine Tasche mit Wollkleidung hing an ihrer Hand, und sie sah blass aus, farblos , wie ein Gespenst .
Als Alma beim Roten Kreuz fertig war, ging sie zum k irchlichen Suchdienst , der in einer Nissenhütte vor dem Bahnhof untergebracht war. An einem der sechs Tische erklärte sie im Stehen , dass sie ihren Mann suchte, einen Heinrich Kraft, aus dem Warthegau, Jahrgang neunzehn.
„Sie sprechen aber gut deutsch, Fräulein“, sagte die Frau ihr gegenüber, die einen dunklen, zu großen Herrenmantel trug, um sich warm zu halten. Sie hatte die grauen Haare zu einem strengen Lehrerinnend utt gebunden und trug eine schwarze Hornbrille.
„Frau. Ich bin verheiratet. Ich suche meinen … meinen Mann.“
„Frau da nn eben … Ihr Deutsch ist gut, auch wenn Sie… komischer Dialekt, den Sie sprechen, aber im Grunde gutes Deutsch. Wo haben Sie gelernt? In Stellung?“
„Ich bin deutsch.“
„Sie sind doch aus dem Osten. Von den Polen.“ Sie sah an Almas Kleidern herunter.
„Aus dem Warthegau. Eigentlich aus Bessarabien. Wir sind Umgesiedelte. 1940 kamen wir zurück ins Reich. Wir sind deutsch.“
„Ja“, lachte die Frau leise. „Sie glauben nicht, wie oft ich das höre. Alle, die hier stehen, sagen das. Keiner aus dem Osten, der nicht plötzlich volksdeutsch sein möchte, damit er was in den Bauch bekommt.“
Alma sah sie verwirrt an. „Was meinen Sie? Es ist doch so.“
„Na, lassen wir das sein – nichts für ungut.“
„Ich suche meinen Mann. Ich dachte…“
„Es muss natürlich jeder sehen, wo er bleibt in diesen Zeiten.“
Die Frau legte Kohlepapier zwischen zwei weiße Blätter und spannte sie auf die Walze ihrer Schreibmaschine. „Immerhin riechen sie nicht streng“, sagt e sie ohne aufzusehen. „Sie glaub en nicht, wie manche stinken, die hierher kommen. Als wüssten die nicht, dass man sich waschen könnte. Knoblauch, i mmer nur Knoblauch essen sie. Aber bitte , soll jeder essen, was er will, jeder fressen nach seiner Fasson, wie der alte Preußen-Fritz sagte. Wenn der Knoblauch den Mulattenrassigen nur nicht aus den Zähnen und aus der Haut rauskriechen würde, dass alle Welt es merken würde.“
„Den was?“
Sie sah noch einmal zu Alma auf. „Den Mischlingen, liebe Frau. Dem Mischgut, das aus dem Osten kommt.“
„Ich verstehe Sie gar nicht. Ich…“
„Sind Sie aus dem Osten oder nicht?“
„Na ja. Doch.“
„Sehen Sie. Und glauben Sie mal nicht, dass Sie die einzige wären. Der halbe Kontinent kommt nach Hamburg und überrennt uns, ein Zug nach dem anderen, und belegt die wenigen Wohnungen, die nicht zerstört sind. Polacken und was nicht alles – all e Asozialen , die nicht lesen und nicht schreiben können. Wer das bezahlen soll, ist mir ein Rätsel. Es macht sich keiner von denen Gedanken darüber. “
„Aber… wen
Weitere Kostenlose Bücher