Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall
gelblichem Papier verfasst. Die andern beiden Sätze hingegen auf bräunlichem. Obschon ich die entsprechenden Manuskripte in der Schweiz zurückgelassen habe, bin ich mir in diesem Aspekt absolut sicher. Mein Erinnerungsvermögen täuscht mich in punkto Farbtöne selten. Falls die Thuner Papiere tatsächlich aus Brahms’ Hand stammen, könnten sie wegen der Farbdifferenz Teil einer zusätzlichen Abschrift darstellen. Immerhin stimmen aber die grafologischen Charakteristika auf allen Seiten weitgehend überein.
Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ein Fälscher derart dilettantisch vorgegangen wäre und sich schon bei der Papierwahl vergriffen hätte. Im Gegenteil. Vermutlich suchte er die Übereinstimmung der Papierqualitäten um jeden Preis zu garantieren. Er würde Leerseiten aus alten, kostbaren Büchern schneiden, die präzise datiert sind und dadurch auch chemischen Altersbestimmungen standhielten. Oder handelt es sich um einen superschlauen Typen, der genau diese Überlegungen vorweggenommen und mit heimtückischer Schlauheit absichtlich unterschiedliche Papiere verwendet hat?
Ich widme mich dem ersten Satz der Sonate. Schwungvoll hingeworfene Phrasierungen, flache Notenköpfe, fein gezeichnete Taktstriche, die sich alle leicht nach rechts neigen, wie Gräser im Wind. Kaum Korrekturen. Die gekritzelten Tempi, teilweise noch zusätzlich unterstrichen, mit energischen Linien. Ihre Ausrichtung verrät den Rechtshänder. Schließlich Brahms’ Signatur: Ein gut lesbarer, sauberer Schriftzug in flotter Schräglage. Das große J deutlich abgesetzt vom restlichen ›ohannes‹. Der ausladende Unterbogen des ersten Buchstabens erinnert an ein Becken. Für Johannes ein Taufbecken?
Der Familienname wirkt geschlossener und kompakter. Bei meinem Gutachten geht es um die Frage, ob die Schweizer Schriften aus derselben Feder stammen könnten, mit der auch das Krakauer Manuskript verfasst wurde. Falls dies zuträfe, wäre die Echtheit so gut wie belegt.
Ich blättere vorsichtig in den Notenblättern. Dann halte ich unvermittelt inne, konsultiere die Druckfassung und nehme erneut das Original zu Hand. Ein bestimmtes Detail irritiert mich. Liegt da nicht ein Widerspruch zwischen Original und Druckfassung vor? Ich gebrauche die Lupe. Tatsächlich! Zweifel sind ausgeschlossen.
Während in der Edition im Takt 49 der Pianostimme un poco calando steht, findet sich diese Bemerkung im Autograf lediglich in der Violinstimme wieder. Verkürzt als poco cal . Die Dreiviertelpause der verstummten Begleitung wird von der Violine mit den drei kleinlauten Tönen gis-a-ais überbrückt. Teneramente übernimmt das Piano den Melodiebogen. Die Saiten der Violine warten zwei Takte lang auf ihren piano-dolce-Einsatz.
Hat Johannes Brahms in der Pianostimme bewusst auf den entsprechenden Hinweis verzichtet? Oder hat er sie im Fluss des kreativen Akts stillschweigend untergehen lassen? Hat er sich darauf verlassen, dass ein zuverlässiger Kopist die fehlende Anmerkung vor der entscheidenden Drucklegung hinzufügen würde?
Aber das ist noch nicht alles. Ein weiterer Unterschied zwischen Druck- und Handschrift fällt mir jetzt ins Auge. Im Allegretto grazioso quasi andante weicht sechs Takte vor Schluss die Notation der Violinstimme von der Druckversion ab. Kurz nacheinander wird die unbetonte Achtelnote auf eine 16tel-Note abphrasiert und mit einer 16tel-Pause ergänzt. In der Edition Peters dagegen macht nur eine Fußnote auf diese Ausführungsvariante aufmerksam. Ich frage mich darum, ob Brahms’ Notation nachträglich verändert wurde. Spricht der Beleg der staccatierten Ausführung für die Echtheit des Autografen? Oder hat ein Fälscher im Dilemma abweichender Varianten einen Fehlentscheid getroffen?
Nervös schaue ich mich um, als stünde ich unter permanenter Videoüberwachung. Fest steht, dass weder im ersten, noch beim dritten Satz ein Zaudern der Federschrift zu erkennen ist. Erst recht finden sich keine Anzeichen von Korrekturen. Die alten Noten wirken wie aus einem Guss. Sie behalten das Geheimnis, wer ihnen eine eigene Note verabreicht hat, bis auf weiteres für sich. Gedruckt wurden sie jedenfalls in der überarbeiteten Fassung. Das steht fest.
Ein ketzerischer Gedanke schießt mir durch den Kopf. Müsste an Stelle der beiden neu entdeckten Sätze allenfalls die Authentizität der polnischen Papiere überprüft werden? Könnten sich die Thuner Manuskripte als echt und der Krakauer Satz als Fälschung erweisen? Was für
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