Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer
ja. Ich würde mal sagen, sie hatten keine Chance, aber sie nutzten sie. Ein ordentlicher Mensch verbringt seine Zeit nicht im Wirtshaus, wusste man damals bei den Pietisten. Ein ordentlicher Mensch arbeitet von morgens bis abends, und in seinen wenigen freien Momenten liest er mit voller Intensität in Gottes Wort. Man geht überall hin, nur nicht ins Wirtshaus. Am Anfang kamen deshalb fast nur Papisten aus den Nachbardörfern.«
»Papisten?«, fragte Braig.
»Katholiken. Die Alb ist konfessionell streng geteilt. Der Teil, den die österreichischen Habsburger über Jahrhunderte hinweg an sich gerissen hatten, blieb katholisch, nur dort, wo die Württemberger regierten oder im Umfeld der freien Reichsstädte Esslingen, Reutlingen und Ulm wurden die Menschen von den Fesseln Roms befreit. Und was unternahmen etliche Evangelische auf der Alb mit dieser neu gewonnenen Freiheit? Sie lieferten sich den Weltuntergangsbeschwörungen pietistischer Eiferer aus. Statt Fegefeuerqualen und Höllenstrafen Nacht für Nacht in immer neuen Albträumen über sich ergehen und sich ihr ohnehin spärliches Hab und Gut von römischen Ablassbrieflügnern aus der Tasche rauben zu lassen, wurden sie jetzt des irdischen Daseins als sündiges Jammertal belehrt, dem nur mit Arbeit und Verzicht auf alle weltlichen Vergnügungen zu entfliehen ist. Alle Lebewesen außer unseren Pietisten auf der Alb haben begriffen, dass der Hauptzweck unseres Daseins darin besteht, es zu genießen. Und in dieser Umgebung eröffneten die Fitterlings ihr Wirtschäftle.«
Braig kannte die wechselhafte Geschichte der verschiedenen Regionen der Schwäbischen Alb, wunderte sich dennoch über die tief schürfenden Ausführungen des Mannes. »Und das Experiment mit dem Lokal ging tatsächlich gut?«
Stollner fuhr sich mit seiner Rechten über die Glatze, verharrte einen Moment. »Ja und nein«, erwiderte er dann.
Der Kommissar wartete schweigend auf eine Erklärung.
»In Geigelfingen von einer Wirtschaft zu leben, nein, das war damals jedenfalls nicht möglich. Unter der Woche abends eine Handvoll Bier schluckende Papisten – das macht die Kuh nicht fett. Am Wochenende aber sah die Sache bald anders aus.«
»Da kommen die Ausflügler«, meinte Braig.
»Aus Stuttgart, Reutlingen, Esslingen, Ludwigsburg und Umgebung, ja. Leute mit Geld, Hunger und Durst. Es hatte sich überraschend schnell herumgesprochen, dass die Fitterlings gut kochen können – das Lokal platzte bald aus allen Nähten. Sie schufteten wie die Weltmeister. Samstag und Sonntag, im Frühling und im Sommer. Und es dauerte nicht lange, da waren sie regelrecht berühmt für ihre einzigartige Spezialität. Fitterlings Hausgmachte Maultaschen.« Er wandte sich Braig zu, wies auf die Umgebung. »Wie man sich erzählt, war es die Idee der Ehefrau. Statt im Herbst und im Winter ohne Arbeit und ohne Geld auf den Frühling und den Sommer zu warten und sich dann an den Wochenenden in der warmen Jahreszeit halb tot zu schuften, um wieder über die kalten Tage zu kommen, fand sie die Lösung: Maultaschen das ganze Jahr über dort anbieten, wo die Menschen wohnen. So wurde aus dem Wirtschäftle eine kleine Manufaktur mit eigenen Verkaufsstellen in den wichtigsten Städten.«
»Die zeitweise recht gut lief.«
»In der Tat, ja. Der Ruf, den Fitterlings Maultaschen inzwischen genießen, verschafft ihnen Zutritt in die teuersten Küchen. Selbst in den Häusern der Haute Cuisine stehen sie auf der Speisekarte, wie ich mir habe sagen lassen. Und wenn Sie selbst mal erleben wollen, in welchen Scharen die gut betuchten Stuttgarter, Esslinger und Reutlinger bei uns einfallen, sollten Sie mal an einem der nächsten Wochenenden ins Restaurant einkehren.« Stollner blieb stehen, deutete nach unten, wo am Rand des Ortes neben dem Fabrikgebäude ein lang gezogener Glaspavillon zu erkennen war. Fitterlings Maultaschen Haus prangte in großen Lettern auf seinem Dach.
»Aber, was sage ich«, fuhr der Mann, seinem Begleiter zugewandt, fort, »das sollten Sie gerade nicht tun. Das ist die Hölle. Sommer, Sonne, schönes Wetter – die werden dem Ansturm kaum mehr Herr. Gönnen Sie sich den Besuch lieber unter der Woche – heute Mittag zum Beispiel, oder haben Sie keine Zeit?«
Braig warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Hat das Lokal heute denn offen?«
Stollner musterte ihn nachdenklich. »Sie meinen, wegen …« Er hob abwehrend seine Hände. »Das habe ich völlig verdrängt … Offen gesagt, ich weiß es nicht. Oh
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