Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer
Haus anlangte. Der Veterinär zog sich von der geöffneten Beifahrertür eines dunklen Daimler zurück, auf dessen vorderen Sitzen eine freundlich blickende, ältere Dame sowie ein eifrig mit seinem Schwanz wedelnder Retriever Platz genommen hatten. »Bald sind wir soweit«, flötete der in einen weißen Arztkittel gekleidete Mann, »dann hat Bernstein keine Probleme mehr mit den Frauen.« Er warf die Autotür ins Schloss, trat einen Schritt zurück, winkte der mit dreifachem Hupen startenden Limousine hinterher.
Braig kannte seinen Vermieter inzwischen zur Genüge, um auf der Stelle zu begreifen, weshalb er sich persönlich auf die Straße bemüht hatte. »Oh, da fährt sie dahin, die wichtigste Geldquelle des Monats«, frotzelte er.
Dr. Genkinger ließ sein gewohnt kräftiges Lachen hören, klopfte dem Kommissar auf den Arm. »Keine Angst, übermorgen kommt sie wieder!«, erklärte er.
»Eine größere Sache?«, fragte Braig.
»So lässt sich das formulieren, ja.« Der Veterinär trat vom Gehweg in den Vorgarten, wartete, bis sein Gesprächspartner ihn erreicht hatte. Ein verschmitztes Lächeln überzog seine Miene. »Allerdings nur, weil ich etwas nachgeholfen habe.«
»Nachgeholfen? Das arme Tier seiner Herrin gegenüber für schwer krank erklärt, obwohl es sich nur um eine harmlose Sache handelt?«
»Schwer krank? Nein, das nicht.« Dr. Genkinger schüttelte den Kopf. »Sagen wir es mal so: Ich habe der Frau nur geraten, die ohne Zweifel notwendige Operation in eine langwierige, zeit- und kostenintensive Therapie einzubetten. Dass diese Prozedur vollkommen überflüssig ist, wen interessiert das schon? Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Dem Hund schadet es nicht und seine Besitzerin darf sich endlich wieder in dem Bewusstsein sonnen, ihrem Tier Gutes zu tun und seinem Wohlergehen wenigstens einen Teil ihrer ohnehin im Überfluss vorhandenen Zeit und ihres noch reichlicher vorhandenen Geldes zur Verfügung zu stellen. Was glauben Sie, wie sehr das ihrer Psyche bekommt! Der Veterinär als Therapeut für Frau und Hund. Mehr für die Frau als für den Hund, um es genauer zu sagen.«
»Eine nicht ganz uneigennützige Therapie«, meinte Braig, das Grinsen des Arztes erwidernd, »zumindest was den freundlichen Therapeuten betrifft.«
»Nicht ganz uneigennützig, nein. Aber Sie kennen ja meinen Grundsatz: Lieber da ernten, wo reichlich Früchte vorhanden sind; nicht dort, wo die Leute hungern. Und hier gibt es Früchte und in welchem Ausmaß! Der Herr des Hauses hat einen Direktorenposten beim Daimler. Das schreit geradezu nach Umverteilung.«
Braig, seit eineinhalb Jahren als Mieter im Haus des Tierarztes und nach vielen intensiven Gesprächen in einem Stadium, in dem er den Mann, auch wenn sie noch nicht beim Du angekommen waren, mehr und mehr als persönlichen Freund schätzte, war dessen revolutionäre Gesinnung und unkonventionelle Arbeits- und Lebenspraxis inzwischen wohlbekannt. Schon bald nach ihrem Einzug in das von dichten Büschen und Sträuchern gesäumte Haus am Rand des Cannstatter Kurparks war ihm und seiner Partnerin die auffällige Häufung etwas ungepflegt wirkender Kunden der Praxis aufgefallen.
»Ich will ja jetzt nicht unverschämt sein«, hatte Ann-Katrin ihn eines Mittags, er war zu einer kurzen Mahlzeit nach Hause gekommen, gefragt, »aber hast du schon mal bemerkt, was für Leute der Arzt da an manchen Tagen empfängt und in welchem Zustand sich viele von deren Tieren befinden?«
Braig, tagsüber nur selten zu Hause, war wenige Wochen später durch einen Zufall auf des Rätsels Lösung gestoßen.
»Wo ’s ’n der Tierarzt, wo ’s nix kostet?«
Früher als gewöhnlich vom Amt zurückkehrend, hatte ihn keine hundert Meter von der Praxis entfernt ein Mann angenuschelt, der ihm von seinem Äußeren her unwillkürlich als Obdachloser aufgefallen war. Die angetrunkene, intensive Ausdünstungen von Alkohol, Schweiß und lange ungewaschener Kleidung von sich absondernde Person hatte eine schwer verletzte, leise winselnde Promenadenmischung an der Leine mit sich geführt.
»Der Tierarzt, wo es nichts kostet?« Er hatte nicht lange überlegen müssen, es gab nur eine Antwort. Weit und breit war kein anderer Veterinär zu finden.
»Wissen Sie, was den höchsten Wert im Leben eines Menschen ausmacht, dem sonst nicht viel geblieben ist? Ein lebendiges Wesen, mit dem er Zärtlichkeiten austauschen, Zwiesprache halten, die Höhen und Tiefen der Existenz gemeinsam durchschreiten
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