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Brandfährte (German Edition)

Brandfährte (German Edition)

Titel: Brandfährte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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liebte, aber Steenhoff spürte sofort, dass Ira fahrig wirkte. Also beließ er es bei ein paar knappen Sätzen: «Ich bin es, Ira. Wir haben einen neuen Fall. Die Brandleiche in Findorff. Warte bitte heute Abend nicht auf mich. Es wird bestimmt später werden.»
    Steenhoff wartete auf eine Nachfrage, aber Ira blieb stumm.
    «Bist du noch dran?»
    «Frank …», Ira stockte. «Frank, ich …»
    «Was ist los?» Steenhoff spürte, wie sofort die Angst in ihm hochkroch. «Ist was mit Marie?»
    «Nein, mit Marie ist alles okay», beruhigte Ira ihn. «Es ist …», sie holte tief Luft. «Else ist gestorben.»
    Steenhoff blieb ruckartig stehen.
    Else. Tot? Das konnte nicht sein.
    «Sie war doch noch fit und ganz vergnügt, als ich sie zuletzt besucht habe», erwiderte Steenhoff ungewollt heftig.
    «Frank, sie war knapp 80 », antwortete Ira sanft. «Sie ist einfach morgens nicht mehr aufgewacht. Ihre Nachbarn haben sie heute Mittag im Bett gefunden. Sie haben sich Sorgen gemacht, weil sie ihren Briefkasten nicht geleert hatte und auch auf ihr Klingeln nicht reagierte.»
    Wut stieg in Steenhoff hoch. Iras Stimme klang, als sei alles richtig und gut so. ‹Sie war knapp 80 .› Wie das klang. Als sei es an der Zeit gewesen zu sterben.
    Das Handy immer noch in der Hand, setzte sich Steenhoff auf den nächstbesten Stuhl im Flur. Else war mehr für ihn gewesen als eine Tante. Viel mehr. Damals, als die Ehe seiner Eltern auseinanderbrach und er der neuen Beziehung seiner Mutter im Wege stand, hatte Else ihn bei sich aufgenommen. Anfangs nur in den Sommerferien, als seine Mutter mit ihrem Freund in Ruhe verreisen wollte. Dann an den Wochenenden, und schließlich blieb er ganz bei Else und ihrem Mann Willi.
    Auch als seine Mutter ihren Chef aus der Neustädter Druckerei heiratete und knapp zwei Jahre später ein Kind mit ihm bekam. Die Hochzeit seiner Mutter war ihm nur noch als diffuser Schmerz in Erinnerung. Aber an die Taufe seines Halbbruders erinnerte er sich noch genau. Seine Mutter und ihr neuer Mann standen in der Kirche Hand in Hand dicht beieinander. Der Pastor hielt Steenhoffs Bruder, ein weißes Bündel, auf dem Arm, tauchte zwei Finger in das Weihwasser und strich die feuchten Fingerkuppen über die Stirn des Babys. Steenhoff hatte die Zeremonie gemeinsam mit Tante Else und Onkel Willi aus ein paar Meter Abstand verfolgt. Er konnte sich noch daran erinnern, dass er sich damals fragte, warum seine Mutter ihrem kleinen Sohn eigentlich so ein albernes Kleid angezogen hatte, das ihm viel zu groß war. Als der Pastor seiner Mutter das weinende Baby zurückgab und ihr Mann liebevoll den Arm um sie legte, wäre er am liebsten aus der Kirche gerannt.
    Vergeblich suchte er den Blick seiner Mutter, als sie mit dem Baby und ihrem Mann zurück zu ihrem Platz ging. Auch mit einem Hustenanfall gelang es ihm nicht, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er saß schräg hinter ihr in der zweiten Stuhlreihe und hörte sie leise auf ihr unruhiges Kind einreden. Es waren zwei Meter, die sie voneinander trennten. Tatsächlich war es mehr: zwei Leben, die nichts mehr miteinander zu tun hatten.
    Vielleicht empfanden seine Tante und sein Onkel ganz ähnlich. Else zog ihn plötzlich noch ein Stück enger an sich, und er drückte das Gesicht in ihren dunkelblauen Mantel, damit niemand merkte, dass ihm vor Wut und Eifersucht die Tränen über die Wangen liefen. Willi zog sein weißes Taschentuch mit eingesticktem Monogramm aus der Hosentasche und stopfte es wortlos in die Jackentasche des Jungen. Es war zerknittert und schon benutzt, aber Frank war dankbar, dass er seinen Rotz, der ihm unentwegt aus der Nase lief, nicht weiter an die neue Hose schmieren musste. Als er nach dem Ende des Gottesdienstes hinter dem Paar mit dem kleinen Kind auf dem Arm die Kirche verließ, beschloss er, keine Mutter mehr zu haben. Er malte sich in seinen Tagträumen aus, dass sie bei einem Flugzeugabsturz über dem Atlantik ums Leben gekommen war. Eine tragisch verunglückte Mutter war besser als eine, die sich für ihren ältesten Sohn nicht mehr interessierte.
    Seit der Taufe seines Bruders vermied er es, seine Mutter bei den sporadischen Sonntagsbesuchen, auf die Else immer so vehement bestand, mit «Mama» anzusprechen.
    Da seine Tante sich im Laufe der Jahre immer häufiger mit ihrer jüngeren Schwester stritt, wurden auch die Sonntagsbesuche weniger. Schließlich sah er seine Mutter nur noch ein paarmal im Jahr. An seinen Vater konnte er sich gar nicht

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