Brann 02 - Blaue Magie
den Knoten des Kopftuchs fester und schnalzte ungnädig mit der Zunge, als eine Ohreule dicht über ihren Kopf hinwegschwirrte und ihr zuheulte. »Ich weiß«, murmelte sie. »Ich weiß. Höchste Zeit, daß wir uns 'ne Unterkunft suchen.«
Sie bekam ein Zimmer in einem heruntergekommenen Gasthaus nahe der westlichen Stadtmauer, eine Kammer mit einem Bett und sonst kaum etwas darin; die Decken waren dünn und schmuddelig, es gab Wanzen und Flöhe, den Gestank nach jahrzehntealtem Moder. Dreck klebte auf Dreck, ohne daß jemals ein Scheuermittel ihn vermindert hätte; die einzigen Vorteile bestanden aus einem dicken Riegel an der Tür und einem Gitter vor dem schmalen Fenster, die jedoch waren ihr den hohen Mietpreis wert, den sie für ein Einzelzimmer entrichten mußte. Nachdem sie eingezogen war, machte sie einen Schneider ausfindig, der noch spät geöffnet hatte, bestellte sich neue Gewänder, entdeckte anschließend eine Speisebude, die eines ihrer Lieblingsessen anbot, aß dort im Stehen, beobachtete im Hafenviertel das Treiben und ließ sich davon umwimmeln. Im Laufe der nächsten sechs Tage schlich sie durch die Nächte, durch Häuser ebenso wie durchs Freie, stahl sich durch abgelegene Gassen, folgte dem üblen Geruch verderbter Seelen und tötete, bis ihre eigene Seele sich dagegen aufbäumte, trank das Leben ihrer Opfer, fütterte die Kinder, erneuerte auch die eigene Lebenskraft, trank Leben in solcher Fülle, daß zuletzt ihr Fleisch schimmerte wie im Mondschein. Während die Kinder ihre langsame Entwicklung zur Reife durchlebten, wuchs ihr Vermögen, Kräfte zu speichern. Inzwischen mußten sie sie nur noch alle zwei Jahre gründlich auffrischen; dann allerdings dauerte es viele Nächte des Jagens, um ihnen Lebenskraft in ausreichendem Umfang zugänglich zu machen. Als Slya damals Brann zu einer Entscheidung genötigt hatte, war sich Brann über die volle Tragweite ihrer Wahl nicht im klaren gewesen. Als sie ihren Entschluß fällte, war sie — trotz ihres Aussehens und der vielfältigen Erfahrungen der vorherigen zwei Monate — erst zwölf Jahre alt gewesen; sie hatte nicht geahnt, wie überdrüssig sie des Lebens werden würde (obwohl sicherlich nicht ständig, viele ihrer Tage waren erfüllt von Zufriedenheit, ja sogar Freude, doch im Laufe der Jahrzehnte hatten dunkle Stunden sie immer öfter heimgesucht); hatte nicht absehen können, wie schwer die Bürde, die Kinder ernähren zu müssen, ihr noch werden sollte; hatte nicht zu ahnen vermocht, wie stark ihr Hunger zunehmen, wie viele Leben es kosten würde, um diesen Hunger zu stillen, wie tief sie sich selbst noch verabscheuen sollte, ganz gleich, wie sorgsam sie darauf achtete, ausschließlich schlechten Menschen das Leben zu rauben. Könige und Söldner, Ratsherren und Heerführer, Räuber, Meuchler und Kuppler, allerlei derartige Leute waren anscheinend dazu imstande, ruhig und zufrieden zu leben, obschon sie im Übermaß und in der mannigfaltigsten Art und Weise töteten, verstümmelten und marterten, doch Brann fühlte sich am Ende ihrer Beutezüge so niedergedrückt, dermaßen voller Selbstabscheu, daß sie sich jedesmal fragte, wie sie sich dazu durchringen können sollte, dergleichen noch einmal zu wiederholen; aber sobald die Kinder neuen Hunger litten, brachte sie den Willen zur Jagd wiederum auf; sie waren als unschuldige Opfer eines Zwists zwischen Göttern in diese Welt geraten, in den sie sich gar nicht hatten einmischen wollen, und am Schluß Opfer der Verwirrung Branns und ihrer Bevorzugung der eigenen Art geworden; sie nun verhungern zu lassen, wäre ein größeres Unrecht gewesen als sämtliches Töten.
Am Abend des siebten Tages, als sie die Pirsch beendet hatte und die neuen Kleider ihr geliefert worden waren, zog sie von dem Gasthaus in eine bessere Kammer in einem besseren Gasthof in einer besseren Nachbarschaft um, gelegen in der Nähe der Mauer ums Viertel der Hoflieferanten, in ein vierstöckiges Gebäude mit Badehaus und einem kleinen Innengarten, in dem man, wenn die Tage sonnig waren und die Abende lau, die Mahlzeiten einnahm.
Brann reichte dem Jugendlichen, der ihre Sachen getragen und ihr das Zimmer, in dem sie für die kommenden drei Tage zu wohnen beabsichtigte, gezeigt hatte, eine Handvoll Kupfermünzen; sie sah ihm nach, bis er fort war, dann ging sie zum einzigen Fenster und öffnete die Läden. »Hmm ...! Das ist ja keine schöne Aussicht.«
Jaril schlenderte zu ihr und lehnte sich schwer an sie. »Hübsche
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