Braut von Assisi
ins Sonnenlicht gewagt hatte.
Nach einigem Palaver hatte Suor Regula ihn schließlich doch an das Krankenlager der Äbtissin geführt. Die graue Katze von gestern hielt sich die ganze Zeit dicht neben ihm, als hätte sie nur auf seine Wiederkehr gelauert. In der schlecht gelüfteten Kammer war sie sofort unter dem Bett verschwunden. In dem winzigen Raum, der noch dazu so niedrig war, dass Leo kaum aufrecht stehen konnte, roch es nach Krankheit und Schweiß – und nach Traurigkeit, das nahm seine empfindliche Nase als Erstes wahr. Dazu gesellte sich das bittere Aroma eines Kräutersuds, das dem bauchigen Tonkrug am Kopfende entströmte.
Bei seinem Anblick rappelte Chiara sich mühsam hoch. Ihr Lager bestand aus einem Holzbrett auf vier wackligen Beinen, über das eine dünne Strohschicht gestreut war. Leo
sah einzelne Halme aus der zerschlissenen Decke ragen, die offenbar als Laken diente. Mit kratziger Stimme begann Chiara zu sprechen, so undeutlich allerdings, dass er kaum etwas verstand.
»Madre Chiara heißt dich herzlich in San Damiano willkommen«, übersetzte die Infirmarin. »Ich hatte bereits Gelegenheit, ihr ein wenig von dir zu erzählen. Sie ist sehr froh, will sie dich wissen lassen, dich nun persönlich kennenzulernen. Hattest du denn eine gute Reise?«
Überrascht musterte Leo erst sie, dann die Äbtissin.
Im Kellerverlies lag eine Tote mit Tintenfingern, die angeblich nicht schreiben konnte und mitten in der Nacht außerhalb des Klosters auf merkwürdige Weise ums Leben gekommen war – und Chiara erkundigte sich eingehend nach seinem persönlichen Wohlergehen! War das Höflichkeit oder nicht vielmehr ein geschickter Versuch, von San Damiano abzulenken, damit er bloß keine falschen Fragen stellte?
»Im Großen und Ganzen – ja«, erwiderte er zögernd. Was konnten sie wissen? Hatten sie womöglich bereits Erkundigungen eingezogen? Und wenn ja, bei wem?
Erneut ein paar Sätze von Chiara, so hastig hervorgestoßen, als handele es sich um eine Art Selbstgespräch.
»Jede Reise verändert uns«, übersetzte Regula. »Wir treffen neue Menschen, glauben, unterwegs Neues und Wichtiges zu erfahren. Dabei erinnern wir uns bloß. Darin liegt das ganze Geheimnis.«
Leos Unbehagen wuchs.
Was sollte dieses Gerede? Konnte jemand aus dem Haus Lucarelli geplaudert haben? Die Hausherrin hatte ihn zu seiner Verblüffung während des Frühstücks neugierig über seinen Alpenritt ausgefragt, während die blonde Ilaria sich mit erstaunlichem Appetit über zwei große Teller der warmen
Morgensuppe hergemacht und ihm nur ab und an ein verschmitztes Lächeln geschenkt hatte, als wolle sie ihre Komplizenschaft damit vertiefen.
Wie unterschiedlich diese beiden Schwestern doch waren! Und wieso sprach die eine fließend Deutsch, während die andere kaum ein Wort davon verstand? Noch immer hatte er Stellas Augen vor sich, die sich beim Übersetzen der mütterlichen Fragen so nachdenklich auf ihn geheftet hatten, als entdeckten sie in seinen Zügen etwas, was er lieber verborgen gehalten hätte.
»Dank Gottes Gnade bin ich heil hier eingetroffen«, sagte er mit fester Stimme, obwohl diese Antwort einer Lüge bereits gefährlich nahekam. Den Großteil der Nacht hatten ihn heftige Kopfschmerzen wach gehalten, und auch jetzt fühlte er sich noch immer benommen, als könnte er die Welt lediglich durch ein feinmaschiges Netz wahrnehmen, das seine Sicht erheblich einschränkte.
Zu Leos Überraschung nickte Chiara mehrmals, bevor sie Suor Regula weitere Botschaften zuflüsterte.
»Der Allmächtige hält seine gnädige Hand über uns.« Jetzt war der alpenländische Singsang der Nonne unüberhörbar. »Wir Menschen sind es, die straucheln oder den geraden Weg verlassen, der zu Ihm führt. An uns sollten wir zweifeln, doch niemals an Ihm, denn Seine grenzenlose Liebe währt ewiglich.«
Was wollte sie ihm damit sagen? Abermals verfiel Leo ins Grübeln.
»Gibt es inzwischen neue Erkenntnisse über den Tod Magdalenas?«, fragte er schließlich vorsichtig. »Zeugen möglicherweise, die sie draußen gesehen haben?«
Äbtissin und Infirmarin tauschten einen kurzen Blick.
»Niemanden.« Die Stimme der Nonne war dumpf. »Wie denn auch, wo doch keine von uns jemals die Klostermauern
verlässt und unsere Kontakte nach draußen ohnehin strengstens limitiert sind? Aus freiem Willen haben wir uns alle für dieses Leben in Klausur entschieden. Nicht eine aus unserer Gemeinschaft würde gegen dieses Gebot verstoßen.«
»Und doch hat
Weitere Kostenlose Bücher