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Dolden. Kfar Malal liegt um die Ecke und doch weit weg.
Hier ist es einsam.
Sehr einsam.
Benjamin starrt hinab und fühlt sich verschluckt. Wo das Gefälle endet, verschwindet der Weg im kreisrunden Maul eines Tunnels. Von der Bahnlinie, die ursprünglich darüber verlaufen sollte, liegen nicht mal die Gleise. Jenseits des Tunnels erstreckt sich, wie er weiß, eine planierte Fläche, auf der die Bewohner des Moschaws manchmal ihre Landmaschinen abstellen, meist aber ist hier niemand.
Bis auf die Kinder. Sie lieben das Areal. Es eignet sich vorzüglich, um die Welten ihrer Fantasie entstehen zu lassen. Alles Erdenkliche kann man hier spielen, Reise zum Mittelpunkt der Erde –
(Der Tunnel als Einstieg in die Unterwelt)
Reise zum Mond –
(Der Tunnel als Raumschiff)
Araberangriff –
(Geht auch ohne Tunnel, aber de facto sind Araber im Tunnel weit furchteinflößender)
und natürlich –
Schuss fahren!
Soll keiner sagen, in Kfar Malal mangele es an den Segnungen moderner Technik. Viele Familien besitzen hier Fahrräder.
Zum einen, weil sie praktisch sind.
Zum anderen, weil sie zionistisch sind.
Wie hat noch eine Beobachterin zur Jahrhundertwende so schön notiert: In der Kastanienallee übte sich eine herrliche Männergestalt im Radfahren. Zu dem tiefschwarzen Bart und den strahlenden dunkeln Augen hätte der Burnus besser als die Dreß gepasst. Theodor Herzl, der Schöpfer des Zionismus.
Der sich also nicht nur für den Zionismus abstrampelte, sondern auch aus purer Lust, und seinerseits vermerkte:
Das Fahrrad wird dem Einzelnen wieder zu seinem Recht verhelfen. Die Fußgänger schleppen sich mit einer unverständlichen Langsamkeit und Trübsal dahin. Ein Tritt auf die Kurbel, und sie sind überholt. – Nichts ist uns zu nah und nichts zu fern. So wird uns dieses Fahrzeug zu einem sinnvollen Paradigma für das Schicksal der Ideen, für ihr Leiden und ihren endlichen, wunderbaren Sieg.
Aha.
Wie kann einer da ernsthaft glauben, im Heiligen Land ohne Fahrrad auszukommen?
Und was fuhr Herzl, der Nachahmenswerte?
Ein Opel Blitz.
Darum gibt es gleich mehrere davon in Kfar Malal, sogar Damenräder mit niedrigem Sattel und abwärts gebogener Mittelstrebe. Die größeren Kinder sausen damit umher, wann immer sich die Gelegenheit bietet, zur Schule, über die Felder, einfach so. Irgendwann muss jemand auf den Trichter gekommen sein, wie man dem abschüssigen alten Weg ein bisschen Spaß abgewinnen kann, indem man sich mit dem Rad abstößt und die Böschung runterdrischt, schneller und schneller werdend, Spaß und Mutprobe zugleich, denn Bremsen ist natürlich verpönt. Also rauschen sie mit Karacho in den Tunnel hinein und durch ihn hindurch, und der verbleibende Schwung reicht locker für zwei, drei Runden auf dem Platz dahinter, in weiten, eleganten Kurven.
Und wer am längsten ausrollt, ist Sieger.
Wie oft hat Benjamin schon dabei zugesehen. Zusammen mit Jehuda und Arik. Atemlos beobachtet, wie die Älteren Fahrt aufnahmen und dem Tunnel entgegenflogen.
Jauchzten und schrien.
Und sich gedacht: So werde ich nie sein.
Und solange ich so nicht bin, bin ich –
Ein NICHTS .
Jehuda und Arik tragen Knüppel zur Verteidigung des Moschaws, richtige Männer, auch wenn Jehuda bis jetzt wenig mehr getan hat, als mit dem Ding anzugeben, aber wenigstens traut man ihm was zu, und Arik? Dass der sich wehren kann, hat er eindrucksvoll bewiesen. An jenem denkwürdigen Tag, als er zwei der meistgefürchteten Jungs einfach mal so aus den Socken haute. Das war, bevor sie in die Schule kamen, seitdem genießt er deutlich mehr Respekt, auch wenn die Sache gewaltigen Ärger nach sich zog – die Scheinermanns gegen den Rest der Welt, Kapitel Kinderkrieg.
Inzwischen ist Arik der beste Sandbombenbauer der ganzen Gegend.
Vor allem aber:
Arik und Jehuda haben ES getan.
Obwohl sie eigentlich zu klein sind für die sperrigen Erwachsenenräder, nur, ihr kennt ja Arik. Musste es natürlich gleich ausprobieren. Schon der Ehre halber, weil es ihm die Großen antrugen: Mal sehen, kleiner Kacker, was du draufhast. Wie du dich windest. Doch was macht Arik? Klettert kaltschnäuzig auf den Sattel. Hockt da wie ein Affe, unter Gejohle schieben sie ihn an, und das muss man ihm lassen, er hat ihnen allen Wind aus den Segeln genommen. Der plumpe Außenseiter, aber danach war er für die Dauer eines Tages Herrscher von KfarMalal, mindestens. Und Jehuda, der konnte ja nun schlecht passen, also fand auch er sich zu dem
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