Breathe - Flucht nach Sequoia: Roman (German Edition)
Atem an und horche auf Niamh, doch als alles ruhig bleibt, tapse ich auf Zehenspitzen zur Treppe. Die erste Stufe knarrt und so verlagere ich möglichst viel Gewicht in meine Hände am Geländer und warte ab. Nichts rührt sich. Ich mache noch einen Schritt und noch einen, schleiche ganz langsam die Treppe hoch. Als ich bei der Tür angelangt bin, klopfe ich sachte an. Niemand reagiert. Ich versuche es noch mal. Schlafen die alle? Am Fuß der Treppe erscheint plötzlich Oscar mit einer Flasche in der Hand. »Was tust du?«, flüstert er. Ich mache eine abwehrende Geste, wütend, weil er mir gefolgt ist, und klopfe ein letztes Mal. Diesmal geht die Tür zum Atelier auf und ein grinsender Mann steht vor mir. Ich starre runter zu Oscar. Ist das auf seinem Mist gewachsen? Wollte er mich deshalb in seinem Zimmer festhalten?
Jetzt ist es zu spät für solche Fragen. Eine fette, verschwitzte Hand zerrt mich hinein und schleudert mich zu Boden.
Alles steht mit erhobenen Händen am anderen Ende des Studios und eine Reihe Soldaten hält ihre Waffen wie ein Erschießungskommando auf die Rebellen gerichtet. Einige der jüngeren Teenager schluchzen ein bisschen vor sich hin. Ich werde an den Füßen durch den Raum gezerrt. Harriet blickt zu mir hinab und fängt meinen Blick ein. Sie will mir was mitteilen, aber ich verstehe es nicht. Der lange, dünne Mann lacht. Ich erkenne ihn aus Oscars Beschreibung: Lance Vine, der neue Präsident der Kuppel. Da tritt Niamh hinter ihm hervor. Sie hält eine kleine Pistole und richtet sie direkt auf mich, als könne sie jederzeit abdrücken. »Bea Whitcraft?«, fragt sie. Erst wirkt sie fast freudig überrascht, doch als ihr Hirn die Verbindung zwischen der Szene in Oscars Schlafzimmer und meiner Anwesenheit herstellt und sie eins und eins zusammenzählt, fallen ihr fast die Augen aus dem Kopf.
Vine reibt sich die Hände, als würde man ihm gleich ein gewaltiges Festmahl servieren. »Das wird ja immer besser«, frohlockt er.
Niamh starrt mich eine ganze Weile lang einfach nur an, bis sie sich wieder fängt, den Kopf schüttelt und zu einem Stapel Bettdecken rübergeht. Sie hebt eine mit spitzen Fingern auf, hält sie auf Armeslänge von sich und betrachtet sie nachdenklich. »Die gehört Wendy, glaub ich.« Keine wirklich überzeugende Vorstellung.
Vine kratzt sich am Kinn. »Ist der Daumenabgleich nicht ausschließlich auf deinen Bruder abgestimmt?«Nur ein Volltrottel würde Oscars Verwicklung in diese Sache nicht erkennen. Und ein Volltrottel ist Niamh nicht. Aber sie braucht einen Moment, um sich eine Ausflucht für ihren Bruder aus den Fingern zu saugen.
»Wendy geht hier überall ein und aus, wie sie will, Herr Präsident«, sagt sie. Lügt sie.
Die Soldaten schubsen die Rebellen mit ihren Gewehrläufen Richtung Treppe, wo sie sich in einer Reihe aufstellen müssen, doch mich lassen sie, wo ich bin. Ich richte mich auf und lehne mich gegen die Atelierwand.
Die Tür geht auf und herein kommt Oscar. Der Soldat richtet ein Gewehr auf ihn. »Was zum…«, schimpft Oscar. Er winkt dem Soldaten zu, der ihn im Visier hat. »Nehmt die Waffen runter und sagt mir, was hier gespielt wird.« Der Präsident wirkt völlig ungerührt, doch Niamh schaut drein wie ein begossener Pudel. Keiner scheint so recht zu wissen, wie er mit Oscar umgehen soll, was mir wiederum beweist, dass er mit dieser Razzia nichts zu tun hat. Nicht, dass ich wirklich geglaubt hätte, er würde uns ans Messer liefern. Nein.
»Wendy ist diese Woche an die zwanzigmal die Treppe hier rauf und runter. Und als du heute Morgen weg warst, hab ich jemanden niesen gehört«, stottert Niamh im sinnlosen Versuch, den Verrat an ihrem eigenen Bruder wiedergutzumachen. »Das wollte ich dir vorhin auch sagen, als ich zu dir ins Zimmer bin«, sagt sie mit einem Seitenblick auf mich.
Oscar tritt auf mich zu und dreht mein Gesicht zum Licht. »Bea Whitcraft?«, fragt er.
Niamh schaut zu Oscar und mir und presst sich dieHand vor den Mund. »Was sollen wir mit ihr machen?«, fragt sie Oscar durch ihre Finger. »Die ist hier einfach so bei uns im Haus rumgespukt. Die hätte uns nachts in unseren Betten ermorden können.«
»Wegen Hochverrats anklagen«, sagt Oscar ruhig, die Augen immer noch auf mir. Hoffentlich weiß er, was er tut.
»Wenn sie für schuldig befunden wird, bedeutet das die Todesstrafe«, sagt der Präsident. Er hält sich zurück, beobachtet nur. Oscar verzieht keine Miene, genau wie die Rebellen. Würde ich Oscar
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