Brenda Joyce
»Wie
viel Uhr haben wir?«
»Kurz vor
fünf. Wieso?«
Er musste jeden Moment hier sein. »Ich sollte mich besser
entkleiden«, sagte Francesca und unterdrückte ein Lächeln. »Sarah, dein
Nackenknoten löst sich.«
Sarah zuckte gleichgültig mit den Schultern, dann erkundigte sie
sich mit zusammengekniffenen Augen: »Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
»Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte Francesca und trat hinter
den lackierten Wandschirm. Während sie sich auskleidete, lauschte sie, Sarah,
die summend im Zimmer hin und her ging und ihre Palette und ihre Pinsel
vorbereitete. Francesca war gerade in ihren Seidenkimono geschlüpft, als sie
andere Schritte vernahm – schwere, männliche. Sie verharrte und lächelte in
sich hinein.
»Guten Tag, Sarah. Ich hoffe, ich störe nicht«, ertönte Rourkes
freundliche und sanfte Stimme.
Dann
herrschte Stille.
Francesca spähte hinter dem Wandschirm
hervor. Sarah schien ganz fassungslos, ihn zu sehen, und ihre Wangen begannen
zu glühen. »Rourke ... Bragg ...«, stammelte sie. »Was für eine Überraschung!
Ich dachte, Sie seien in Philadelphia.« Sie klang ganz atemlos, machte sich
hektisch wieder daran, ihre Pinsel zu sortieren, und mied seinen Blick. »Ich
bin für ein Wochenende in der Stadt. Wie geht es Ihnen?«
»Gut. Und Ihnen?« Sarah blickte auf, und das Rot ihrer Wangen
vertiefte sich.
»Sehr gut, danke. Ist Francesca
da? Sie wollte sich hier mit mir treffen. Ich möchte mir ihren Hals noch einmal
ansehen.« Sarah sah ihn überrascht an. »Ist Francesca krank?« Francesca
entschloss sich, hinter dem Paravent hervorzukommen, und trat lächelnd in den
Raum. »Hallo, Rourke. Nein, Sarah, ich bin nicht krank. Aber es hat gestern
Abend einen kleinen Zwischenfall gegeben«, sagte sie.
Als Sarah Francescas entblößten Hals sah, schnappte sie erschrocken
nach Luft und erbleichte. »Was ist denn geschehen?«, rief sie.
»Es geht
mir wirklich gut«, beteuerte Francesca.
»Es ist nur eine oberflächliche Wunde«,
bestätigte Rourke, an Sarah gewandt. Dann musterte er Francesca, genauer
gesagt, den elfenbeinfarbenen Kimono, den sie trug. »Das dürfte ein
interessantes Porträt werden«, murmelte er. »Darf ich fragen, von wem die Idee
stammt?«
Francesca spürte, wie sie errötete. »Das verrate ich nicht«,
erwiderte sie leichthin. »Aber sagen Sie bitte niemandem etwas davon, Rourke.
Sollte meine Mutter jemals erfahren, dass ich nackt posiere, dann – ach, ich
will mir gar nicht vorstellen, was sie dann mit mir machen würde.«
Rourke unterdrückte ein Lächeln. »Warum sollte ich darüber reden?
Ich nehme an, ich werde das fertige Werk ohnehin niemals zu Gesicht bekommen.«
Francesca
warf ihm einen warnenden Blick zu.
Rourke lachte frech. »Calder
ist ein Glückspilz«, sagte er. »Diese Entscheidung liegt ganz bei Mr Hart«,
erklärte Sarah mit fester Stimme.
Francesca zuckte zusammen. Sarah konnte doch unmöglich glauben,
dass Hart ihr Porträt jemals öffentlich zur Schau stellen würde?
Sarah sah sie an und sagte: »Ich glaube, dass dies hier das
wundervollste Bild werden wird, das ich jemals geschaffen habe. Ich hasse die
Vorstellung, dass Hart es für immer unter Verschluss halten wird.«
»Sarah!« Francescas Wangen begannen zu
glühen.
»Ich weiß schon, das ist sehr egoistisch von mir. Aber du bist so
wunderschön, und dieses Gemälde wird atemberaubend werden. Ich bin fest entschlossen,
daraus das beste Werk zu machen, das mir jemals gelungen ist.«
»Sarah – es wäre ein Skandal, dieses Porträt
zu zeigen.«
Sie seufzte. »Ich weiß.« Sie warf einen kurzen Blick zu Rourke,
der ihrem Wortwechsel mit großem Interesse lauschte. »Rourke, vielleicht
sollten Sie Francesca jetzt untersuchen, damit wir anfangen können.«
Rourke sah Sarah mit einem Gesichtsausdruck an, der unmöglich zu
deuten war, dann hob er Francescas Kinn an und betrachtete die Wunde eingehend. Sarah machte sich wieder an ihren
Utensilien zu schaffen. »Es heilt alles ganz wunderbar, und es gibt keine
Anzeichen einer Infektion«, stellte er lächelnd fest. »Wie fühlen Sie sich?«
»Gut«,
erwiderte Francesca vergnügt.
»Den Eindruck machen Sie auch.
Allerdings haben Sie sehr viel Glück gehabt«, sagte Rourke. Er schob seine
Hände in die Taschen seiner Anzugjacke und wandte sich wieder Sarah zu. »Wir
gehen heute Abend zu mehreren in die Oper«, sagte er in beiläufigem Tonfall.
»Außer mir werden Hart, Francesca und Nicholas D'Archand dabei sein.«
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