Brenda Joyce
stiegen ihr in die Augen. Sie kämpfte dagegen an, doch ihr stand
ein langer Tag bevor, und dies hier war ihre einzige Chance, ihren Tränen
freien Lauf zu lassen. Und so gab sie nach kurzer Zeit auf und weinte still vor
sich hin.
Wie lange würde sie wohl noch so weitermachen können? Wie lange
würde sie es aushalten, Tag für Tag ignoriert zu werden,
während er sich in der Nacht von ihr nahm, wonach ihm der Sinn stand? Doch
selbst wenn sie ihn noch einmal verlassen könnte – auf keinen Fall würde sie es
über sich bringen, die Kinder zu verlassen. Sie hatte gehofft, einmal das
Thema der Adoption zur Sprache zu bringen, aber jedes Mal, wenn die Gelegenheit
günstig schien, scheute sie sich davor aus Furcht vor seiner Reaktion. Er würde
sie nur beschuldigen, die Mädchen zu benutzen, um ihn zu ködern. Er hatte sich
zu einem solchen Dreckskerl entwickelt, das war eigentlich der springende
Punkt. Er hatte sie einmal geliebt, aber jetzt hasste er sie, und es schien
ganz so, als gebe es kein Zurück mehr, sosehr sie sich auch bemühte, ihm eine
gute Frau zu sein.
Sie wischte sich die Augen. Zumindest hatten
sie die Nächte. Dieses heftige, unstillbare Verlangen zwischen ihnen würde
niemals aufhören. Heute allerdings kam es ihr wie ein Fluch vor.
Was sollte sie nur tun?
Was konnte sie tun?
Sie war zurückgekehrt, weil Bartolla ihr
mitgeteilt hatte, dass er sich in eine andere Frau verliebt hatte. Sie hatte
ihn vor vier Jahren verlassen in der festen Überzeugung, dass er sein Herz
niemals an eine andere verlieren würde – dessen war sie sich so sicher gewesen.
Als der Brief der Gräfin sie erreichte, hatte sie Bartollas Worte nicht recht
glauben wollen. Doch als sie dann Rick und Francesca am Zug getroffen und sie
Francesca dort zum ersten Mal gesehen hatte, da hatte sie begriffen, was vor
sich ging, und es mit der Angst zu tun bekommen.
Er betete diese andere Frau an, weil sie so selbstlos war, so
großmütig und gut. Er hatte sie auf ein Podest gestellt, Leigh Anne konnte
einfach nicht mit ihr konkurrieren – und sie wollte es auch gar nicht. Das war
unter ihrer Würde. Außerdem bewunderte und respektierte sie Francesca Cahill. Unter
anderen Umständen wären sie vielleicht sogar Freundinnen geworden.
Leigh Anne stellte ihren zugeklappten Schirm ab und suchte in
ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Dieses Selbstmitleid war großer Unfug,
denn es brachte sie einer Lösung keinen Schritt näher. Das Entscheidende war
doch, dass ihre Ehe noch nicht verloren war. Sie würde sie nicht aufgeben,
würde Rick nicht aufgeben. Das stand fest.
Sie musste stark sein.
Leider hatte sie im Augenblick das Gefühl, als
schwänden ihre letzten Kraftreserven dahin. Wie lange würde sie noch so
weitermachen können? Woher sollte sie frische Kraft schöpfen?
Doch dann dachte sie an Katie und Dot, und es wurde ihr warm ums
Herz. Die Mädchen brauchten sie. Er mochte ja, abgesehen von den Nachtstunden, nichts von ihr wollen, aber die Mädchen
brauchten sie – und das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Sie klappte ihren Schirm auf und schickte sich an, ihren Weg
fortzusetzen. Plötzlich ertönte ein Schrei.
»Vorsicht!«,
brüllte ihr ein Mann zu.
Im selben Augenblick hörte sie Hufe gefährlich nah auf dem
Kopfsteinpflaster, hörte das Splittern von Holz, das Quietschen von
Kutschenrädern, das Knirschen von Bremsen. Und das Schnauben ...
Leigh Anne
fuhr herum.
Die Kutsche war offensichtlich
außer Kontrolle geraten. Die Pferde rasten über den Gehweg direkt auf sie zu.
Nur verschwommen nahm sie den erschrockenen Fahrer wahr, der ihr etwas
zuschrie. Blankes Entsetzen packte Leigh Anne. Sie blickte ins Weiße im Auge
des Pferdes und wusste, dass ihr Ende gekommen war.
Sie würde
sterben.
Verzweifelt wollte sie sich zur Seite werfen, doch es war bereits
zu spät.
Eisenbeschlagene Hufe trafen ihr linkes Bein, und sie stürzte zu
Boden.
Die Zeit
stand still.
Sie wusste, dass sie sich zur Seite wälzen
musste, aber der rasende Schmerz lähmte sie, und sie sah weitere Hufe geradewegs
auf sich zukommen, sah das einzelne, furchteinflößende Rad ...
Schluchzend versuchte sie aus
dem Weg zu kriechen. Doch es gelang ihr nicht.
Kapitel 11
SAMSTAG, 29. MÄRZ 1902 – 15:00 UHR
Bragg erwartete
sie auf der Straße vor dem braunen Haus mit den blauen Fensterläden, in dem
angeblich die Coopers wohnten. Sie hatten vor Francescas Lunch mit Grace
vereinbart, sich dort zu treffen. Ein kleines Lächeln umspielte seine
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